Dachau:Das Schicksal von Ernst Lossa

Nebel im August

Pfarrer Björn Mensing von der evangelischen Versöhnungskirche und Medizinhistoriker Gerrit Hohendorfer aus Dachau beantworten Fragen des Publikums zum Film "Nebel im August" über die NS-Euthanasie.

(Foto: Niels P. Jørgensen)

Der Bub kam im Alter von zehn Jahren in das Jugenderziehungsheim Indersdorf und wurde 1942 nach Kaufbeuren-Irsee deportiert. Im Alter von 14 Jahren fiel er der NS-Euthanasie zum Opfer. Der Film "Nebel im August" zeigt seine letzten Jahre. Eine Vorführung mit Diskussion im Dachauer Cinema

Ernst Lossa war zehn Jahre alt, als er wegen "Unerziehbarkeit" in das Jugenderziehungsheim Indersdorf im Landkreis kam. Nachdem er dort als "triebhafter Psychopath" abgestempelt worden war, wurde er zwei Jahre später, im April 1942, in die Kinderfachabteilung der "Heil- und Pflegeanstalt" Kaufbeuren-Irsee verlegt. An diesem Punkt setzt der Film "Nebel im August" ein und zeigt die letzten Jahre des Ernst Lossa, bevor dieser im Alter von 14 Jahren den Euthanasiemorden der Nazis zum Opfer fällt. Lossa gehörte der jenischen Minderheit an, die eine historische Variante des Deutschen sprach.

Das Drehbuch entstammt keineswegs der Fantasie von Regisseur Kai Wessel, sondern beruht auf einer wahren Begebenheit. Alle im Film gezeigten Stationen von Lossas Leben sind, nachgewiesener Maßen so oder so ähnlich geschehen. Es ist das Jahr 1942, der Zweite Weltkrieg ist in vollem Gange, und die Nationalsozialisten verüben in Europa Massenmorde an den Juden. In Deutschland werden kranke, behinderte und so genannte arbeitsunfähige Menschen ermordet. Für die Nazis sind sie "lebensunwerte Existenzen".

Schon kurz nach der Machtergreifung 1933 erließen sie ein Gesetz zur "Verhütung erbkranken Nachwuchses", woraufhin mehr als 400 000 Menschen zwangsweise unfruchtbar gemacht wurden. Mit Beginn des zweiten Weltkrieges gingen sie noch einen Schritt weiter. Die "Aktion T4" wurde ins Leben gerufen, benannt nach der Tiergartenstraße 4 in Berlin, wo die Verantwortlichen saßen. Ihr Ziel war es "das Blut des deutschen Volkes wieder zu bereinigen". Die sogenannten Euthanasiemorde kosteten in sechs Jahren mehr als 200 000 Menschen das Leben. Nach Protesten aus der Bevölkerung wurde die Aktion, die offiziell niemals existiert hatte, dezentralisiert. Statt die als "lebensunwert" Eingestuften in zentralen Tötungsanstalten zu vergasen, wurden die Morde abgeschottet von der Öffentlichkeit in "Heil- und Pflegeanstalten" vorgenommen.

Der Historiker und Pfarrer der evangelischen Versöhnungskirche Dachau, Björn Mensing, hatte eine Vorstellung des Films "Nebel im August" am Mittwochabend im Cinema in Dachau organisiert. "Gerade in Zeiten wie diesen, in denen es wieder populär wird, Minderheiten zu diskriminieren, ist es umso wichtiger, an die grausamen Verbrechen der Nationalsozialisten zu erinnern", sagte Pfarrer Mensing zu Beginn. Der Großteil der Kinobesucher blieb nach dem Abspann noch für die anschließende Gesprächsrunde sitzen. Extra dazu war auch Gerrit Hohendorfer, ausgewiesener Experte der Erforschung der NS-"Euthanasie" und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Technischen Universität München, eingeladen worden, um sich den Fragen der interessierten Dachauer zu stellen.

Was viele Zuschauer nicht glauben konnten, dass auch noch nach Ende des Krieges weiterhin in den Anstalten gemordet wurde, musste Gerrit Hohendorfer leider bestätigen. In der "Heil- und Pflegeanstalt" Irsee wurden noch 56 Tage nach der Kapitulation der deutschen Wehrmacht, am 8. Mai 1945, Kinder und Behinderte getötet. Die amerikanischen Soldaten hatten sich wegen angeblicher Seuchengefahr zuerst nicht in das Gebäude getraut.

Zur Aufarbeitung, Aufklärung und Verfolgung der Verbrechen an psychisch erkrankten und behinderten Menschen nach dem Krieg gab es viel Gesprächsbedarf. In den Jahren der Entnazifizierung wurden tatsächlich einige Urteile gegen Beteiligte an den Euthanasiemorden gefällt. Doch die meisten kamen glimpflich davon. So wurde der Leiter der Anstalt, in der auch Ernst Lossa einsaß, lediglich zu drei Jahren Haft verurteilt. "Ab 1947 wurde praktisch nichts mehr wegen der Euthanasiemorde unternommen. Erst in den letzten Jahren hat man wirklich ernsthaft damit begonnen, die unzähligen Todesfälle aufzuklären", erklärte Hohendorfer. Der Medizinhistoriker lebt in Dachau.

Besonders wichtig war es für Pfarrer Mensing, auch über die Proteste aus der Bevölkerung gegen die "T4-Aktion" zu sprechen. Während es vor 1941 auch von Seiten der Kirche noch ein Aufbegehren gegen die Euthanasie gegeben hatte, wurde es nach der Dezentralisierung verdächtig still um das Thema. Auch Proteste des evangelischen Landesbischofs wurden im Keim erstickt, als er erfuhr, dass es sich um eine "Weisung von allerhöchster Stelle", handelte. Der Experte Hohendorfer ist sich aber sicher, dass dennoch viele Menschen wussten oder zumindest ahnten, was wirklich in den Kellern der "Heil- und Pflegeanstalten" vor sich ging.

Der Film "Nebel im August" zeigt erschreckend realitätsnah die Grausamkeiten, die unter der Herrschaft der Nazis an Schwächeren und Minderheiten verübt wurden. Die Aktualität des Films liegt, wie auch die Diskussion zeigte, in dem fehlenden Wissen über die Euthanasie. Der Film "Nebel im August" schildert bewegend das Leben und den Tod von Ernst Lossa in der Anstalt Kaufbeuren-Irsee. Die Bewohner wissen nichts von den Euthanasiemorden. Immer wieder sterben Kinder und Erwachsene von einem Tag auf den anderen. Offizielle Todesursache: Lungenentzündung. In Wirklichkeit wurden den Patienten jedoch entweder Giftstoffe verabreicht oder sie bekamen Entzugskost. Dabei wurden dem Essen durch stundenlanges Abkochen alle Nährstoffe entzogen. Die Insassen verhungerten, während sie aßen. Ernst Lossa, gespielt von Ivo Pietzcker, kommt hinter die perfiden Grausamkeiten, die in der Anstalt vor sich gehen. Obwohl er nicht behindert oder körperlich eingeschränkt ist, wird er am 9. August 1944, ermordet.

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