Süddeutsche Zeitung

Impfpolitik:Vergessen und alleine gelassen

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Kinder mit einer Behinderung werden bislang gar nicht gegen das Coronavirus geimpft und auch pflegende Angehörige von behinderten Menschen werden nicht priorisiert bei den Impfungen. Kreisrat Michael Reindl (FW), der selbst betroffen ist, will das so nicht hinnehmen

Von Jacqueline Lang, Dachau

Marie ist 14 Jahre alt und schwerstmehrfachbehindert, unter anderem leidet sie an einer Lungenkrankheit. Sie braucht deshalb schon für die einfachsten Dinge Hilfe und das 24 Stunden, sieben Tage die Woche. Für ihre Familie, ihre beiden Eltern sowie ihrer kleine Schwester, war das Leben deshalb schon vor der Corona-Pandemie jeden Tag ein Kraftakt. Seit nunmehr bald einem Jahr gibt es allerdings noch weniger Entlastung durch ausgebildetes Pflegepersonal. Laura und Günther Reiter ( alle Namen von der Redaktion geändert) kümmern sich mittlerweile neben allen anderen Aufgaben größtenteils alleine um ihre Tochter, von ein wenig Unterstützung durch Angehörige und eine Tagesmutter und eine Schulbegleiterin einmal abgesehen. Seit nunmehr bald einem Jahr haben die Reiters neben all der Belastung auch noch Angst. Etwa davor, dass Marie sich mit dem Virus anstecken könnte. Trotz ihres jungen Alters wäre der Ausgang ungewiss, im schlimmsten Fall wäre er tödlich. Und sie spüren noch mehr Wut und Verzweiflung, denn mit der Pflege und all ihren Ängsten fühlen sich viele pflegende Angehörige wie die Reiters alleine gelassen, ja schlicht von den politisch Verantwortlichen vergessen. Mal wieder.

Laura Reiter und ihr Mann würden sich nämlich - trotz aller Skepsis - gerne impfen lassen. Sie haben sich auch bereits online angemeldet für die Impfung. Nur ob und wann sie mit einem Impftermin rechnen können, wissen sie bislang ebenso wenig wie die Mehrheit der Bevölkerung - und das, obwohl ihre Tochter aufgrund ihrer Behinderungen definitiv besonders schutzbedürftig ist. Nur wird Marie eben nicht in einer Pflegeeinrichtung betreut, sondern zuhause von ihren Eltern.

Laura Reiter ist sich nicht einmal mehr sicher, ob pflegende Angehörige wie so oft "bewusst ausgeklammert" worden sind oder ob es einfach ganz grundsätzlich an ausreichend Impfstoff fehlt und sie deshalb nicht priorisiert geimpft wird. "Ich blicke einfach nicht mehr durch", sagt sie am Telefon und klingt dabei wirklich ratlos. Denn so viel steht für sie fest: "Eine Impfung ist für uns die einzige Chance." Und das, obwohl Marie auch dann wohl immer noch lange zuhause bleiben müsste, denn die Impfung von Kindern - zumal von Kindern mit einer oder mehreren Behinderungen - ist derzeit noch gar nicht vorgesehen ist. Aber immerhin wäre die Angst, "selber Überträgerin zu sein" von ihr genommen und vielleicht wäre es dann immerhin für ihre jüngere Tochter wieder möglich, sorglos mit Freunden zu spielen.

Trotz allem will sich Reiter nicht beklagen. Sie weiß, dass sie vergleichsweise privilegiert ist und die Frage, ob ein Leben ohne Marie manchmal leichter wäre, stellt sich schlicht nicht. Laura Reiter ist selbständig, sowohl sie als auch ihr Mann können von zuhause aus arbeiten. Sie schaffen es immer wieder, sich gemeinsam durch den Bürokratiedschungel zu schlagen - vielen anderen pflegenden Angehörige fehlt dazu die Kraft. "Alles geht immer nur mit Kampf", sagt Reiter. Warum man Unterstützung nur bekommt, wenn man weiß, wie man sie einfordert, versteht Reiter nicht - und sie ist überzeugt, dass auch deshalb, viele, die eigentlich einen Anspruch auf Hilfe hätten, durch das System fallen. "Da kommt man sich manchmal echt verarscht vor", sagt sie.

Diese Erfahrung macht auch Marianne Nickl, erste Vorsitzende des Dachauer Vereins "Kunterbunte Inklusion", immer wieder. "Man hat das Gefühl, Familien mit einem Kind mit einer Behinderung gibt es einfach nicht", sagt sie. Mitglieder des Vereins, die sich impfen lassen wollten, müssten sich alle Informationen mühevoll selbst zusammensuchen. Es sei "zäh und undurchsichtig", wer nun Anspruch auf eine schnelle Impfung habe und wer nicht. Allerdings gebe es auch unter den Vereinsmitgliedern nicht allzu viele wie die Reiters, die sich proaktiv um eine Impfung bemühen würden. Fragt man Nickl, warum das so ist, dann sagt sie, das liege womöglich auch daran, dass Menschen, für die Lebenskrisen und Einschränkungen der Freiheit auch schon vor der Pandemie zum Alltag gehörten, längst ihre ganz eigenen Bewältigungsstrategien entwickelt hätten, um auch noch mit einer weiteren Krise umzugehen - auch ohne Hilfe vom Staat. "Wir haben da Übung drin", sagt Nickl.

Außerdem sei es schlicht mühsam immer wieder gegen die Windmühle des Systems, das sie in eine Art "Parallelwelt" drängen wolle, anzukämpfen. Dennoch denkt Nickl weder als Mutter eines Kindes mit einer Behinderung noch als Vereinsvorsitzende daran, aufzugeben: "Zwischendurch kann ich zwar mal nicht mehr, aber grundsätzlich bleibe ich optimistisch." Eventuell helfe ja die Selbsterfahrung, in der Freiheit eingeschränkt zu werden, die derzeit gesamtgesellschaftlich gemacht werde, dabei, in Zukunft mehr Empathie aufzubringen für die Lebensrealität von Menschen mit Behinderung und deren Angehörigen.

Hartmut Baumgärtner, der Behindertenbeauftragte der Stadt Dachau und des Landkreises, hält indes wenig davon, über die Priorisierung einzelner Personengruppen zu diskutieren. "Die Erwartungshaltung von jedem Einzelnen ist sehr hoch", so Baumgärtner. Auf persönlicher Ebene sei das zwar nachvollziehbar, aber nicht unbedingt zielführend. Das Problem sei doch, dass es schlicht zu wenig Impfstoff gebe. Dieser Umstand sei bekannt und werde bereits auf Bundesebene diskutiert. Das Thema jetzt auf anderer Ebene zu "zerreden" hält er für den falschen Weg.

Dieser Einschätzung widerspricht Michael Reindl entschieden: "Der Druck auf die Politik muss auf allen Ebenen erhöht werden." Der Erdweger sitzt nicht nur für die Freien Wähler im Kreistag und ist erster Vorsitzende der Selbsthilfegruppe für Menschen mit Handicap in Stadt und Landkreis Dachau, er ist auch selbst betroffen: Gemeinsam mit seinem Bruder betreut er seine erwachsene Schwester, die sowohl geistig als auch körperlich behindert ist. Seit nunmehr vier Jahrzehnten engagiert er sich deshalb für die Belange von Menschen mit Behinderungen und deren pflegenden Angehörigen. Er weiß von vielen Menschen mit einer Behinderung, die sich gerne impfen lassen würden, um nicht mehr in ständiger Angst vor dem Virus leben zu müssen.

Dass ein kompletter Personenkreis von der Politik einfach vergessen wurde, will Reindl so nicht hinnehmen. Es gehe schließlich nicht um eine Vorzugsbehandlung, sondern um die richtige Einstufung. Nachbarländer wie Österreich und Dänemark hätten es schließlich auch hinbekommen, schnell nachzusteuern. Dass Landrat Stefan Löwl (CSU) nicht tätig werden will und Reindl in einer Antwort auf eine diesbezügliche Forderung auf eine fehlende Zuständigkeit des Landkreises verweist, ist für ihn "keine Lösung". Die Verordnung gehöre schnellstmöglich geändert, ebenso wie das komplette deutsche Impfmanagement, sagt Reindl. "Wir können da nicht ein Jahr warten." Eine Einschätzung die offenbar viele mit ihm teilen: Eine Petition, die den "Impfschutz auch für schwerbehinderte Menschen außerhalb von Pflegeeinrichtungen" fordert, wurde (Stand Dienstag, 12 Uhr) bereits von knapp 60 000 Menschen unterzeichnet.

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Quelle:
SZ vom 03.02.2021
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