Immer mehr Landkreisbürger suchen sich psychologische Hilfe, weil ihnen die Pandemieeinschränkungen zu schaffen machen. Auch die Zeit um den Jahreswechsel ist für psychisch Erkrankte immer wieder eine besondere Herausforderung, stellt Nicolay Marstrander fest. Er ist Chefarzt des kbo-Isar-Amper-Klinikums Dachau. Dort können Betroffene ambulante Notfallsprechstunden nutzen und sich in die psychiatrische Tagesklinik einweisen lassen. Marstrander ist Arzt für innere Medizin, Psychiater und Psychotherapeut. Im Interview erzählt er, wie es ihm selbst in Pandemiezeiten ergeht und was er anderen empfiehlt, um mit viel Elan in das neue Jahr zu starten.
SZ: Die Zeit um Weihnachten und den Jahreswechsel war für einige psychisch Erkrankte besonders traurig. Warum?
Nicolay Marstrander: Oft haben sie nur wenige soziale Kontakte, keine oder nur eine reduzierte Familienstruktur. An den Feiertagen fallen dann noch Kontakte im öffentlichen Raum weg, zum Beispiel beim Einkaufen, beim Therapeuten oder in der Selbsthilfegruppe. Das führt zu sozialer Vereinsamung. Für viele ist Silvester noch schwieriger, denn das ist mit Aufbruch und mit Positiv-nach-vorne-Schauen verbunden, aber das können Menschen in der Krise oft nicht. Viele meiner Patienten in der Tagesklinik sind froh, dass die Feiertage vorbei sind.
Mit welchen Problemen kommen Patienten zu ihnen?
Immer mehr Landkreisbürger suchen bei uns Hilfe, die vor der Pandemie keine psychischen Probleme hatten. Insgesamt nehmen Angst- und Panikstörungen sowie Depressionen zu. Das Schlimme für viele ist die Unsicherheit: Wie geht es mit der Pandemie weiter, ist ein Ende in Sicht? Besonders verunsichert sind etwa Menschen, die in der Gastronomie oder selbständig arbeiten, zum Beispiel in der Tourismusbranche, denn sie haben finanzielle Ängste.
Das ist nachvollziehbar. Aber auch Eltern und junge Erwachsene sorgen sich.
Auf jeden Fall. Eltern müssen die Kinderbetreuung im Homeoffice managen und einige haben Angst, dass ihre Kinder durch die Pandemie abgeschnitten werden und nicht so aufwachsen, wie sie es sich wünschen. Auch für junge Erwachsene zwischen 18 und 25 Jahren ist es schwierig. Sie sind in einer Findungsphase, aber können das nicht ausleben: Denn es ist schwieriger, Praktika zu finden, man kann nicht feiern gehen, und die Vorlesungen in der Uni finden zum Großteil online statt. Das Wissen wird zwar vermittelt, aber Videokonferenzen können echte Begegnungen mit Menschen nicht ersetzen, die die gleichen Interessen haben wie man selbst.

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Wie ergeht es Ihnen in der Pandemie?
Ich versuche nicht zu viele private oder berufliche Erwartungen zu haben, sondern sehr im Moment zu leben. Ich habe meine Kontakte auf wenige Personen reduziert, das hat die Beziehung zu ihnen intensiviert - das merken wohl viele in der Pandemie. Ich habe eine Familie mit drei Kindern, und wir haben versucht, die gemeinsame Zeit zuhause positiv zu gestalten, ich habe noch nie so viel Karten oder Brettspiele gespielt (lacht). Außerdem haben wir viel gemeinsam gekocht und uns immer wieder ein Samstagsmenü überlegt.
Was würden Sie anderen empfehlen, um mit viel Elan in das neue Jahr zu starten?
Wir sollten auf die positive Entwicklung schauen: Die schweren Krankheitsverläufe bei einer Corona-Erkrankung nehmen ab! Wichtig ist auch, dass wir unsere sozialen Kontakte weiter pflegen. Junge Erwachsene tun das zum Beispiel über soziale Medien, aber wir sollten uns auch mit Freunden vor Ort verabreden - denn das ist noch mal eine ganz andere Begegnung. Und körperliche Aktivität tut der Seele auch immer gut. Man kann zum Beispiel mit sich selbst ausmachen, dass man jeden Montag- und Donnerstagabend spazieren geht.
Welche Tipps haben Sie fürs Homeoffice?
Wer dort arbeitet, tut gut daran, sich selbst eine Tagesstruktur zu geben. Das bedeutet, wir schlafen nachts und arbeiten nicht die ganze Zeit durch, haben einen Wechsel zwischen An- und Ausspannung - nehmen uns zum Beispiel bewusst Zeit für Mahlzeiten oder machen auch mal eine Pause.
Viele psychisch Erkrankte hadern damit, sich Hilfe zu suchen. Warum sind psychische Erkrankungen immer noch ein Stigma in unserer Gesellschaft und wie können wir es überwinden?
Das liegt auch daran, dass Menschen mit psychischen Erkrankungen oft in einen Topf geworfen und als anders eingestuft werden. Zudem sind wir gesellschaftlich mit psychischen Problemen oft überfordert und wollen diese Probleme nicht gerne in unserer Nähe haben. Dabei wissen wir, dass ein Drittel der Menschen im Laufe ihres Lebens eine psychiatrische Problematik entwickeln. Von A wie Angst bis Z wie Zwangsstörung. Um die Stigmatisierung zu überwinden, ist es wichtig, in der Öffentlichkeit darüber zu sprechen und aufzuklären. Denn seit einigen Jahrzehnten gibt es viele Möglichkeiten für psychotherapeutische und/oder medikamentöse Behandlungen, damit es Erkrankten wieder besser geht.
Beim Krisendienst Psychiatrie Oberbayern erhalten die Anrufer qualifizierte Soforthilfe bei psychischen Krisen und psychiatrischen Notfällen jeder Art. Die Mitarbeitenden der Leitstelle hören zu, fragen nach und finden mit den Hilfesuchenden gemeinsam einen Weg aus der Krise. Bei Bedarf steht ihnen ein mobiles Einsatzteam persönlich zur Seite. Der Krisendienst ist unter der Telefonnummer 0800/655 3000 rund um die Uhr erreichbar.