Süddeutsche Zeitung

Neue Galerie Dachau:Ebbe und Flut an der Piazzetta

Zwei Millionen Besucher tummeln sich jedes Jahr auf Capri, aber die meisten sind nur tagsüber da und im Sommer. Zeitgenössische Künstler zeigen in der Ausstellung der Neuen Galerie Dachau die Mittelmeerinsel zwischen Massentourismus und einsamer Melancholie.

Von Gregor Schiegl, Dachau

Ach, will man rufen, ach, und das tut man ja als Mensch des 21. Jahrhunderts eher selten. Aber ach, wenn man die Bilder der aktuellen Ausstellung in der Gemäldegalerie Dachau sieht, überfällt einen doch ein bittersüßes Fernweh. Allein die Landschaft. Felsnadeln aus Kalkstein, die in der Abendsonne schimmern, Fischerboote, die lustig auf dem Meer schaukeln, und darüber das warme Licht eines sich neigenden Sommertags. Die Künstler des 19. Jahrhunderts haben die malerische Mittelmeerinsel als Sehnsuchtsort inszeniert, und der Zauber hält bis heute an.

Wenn man auf die nackten Zahlen schaut, ist es damit freilich schnell vorbei. Zu Spitzenzeiten schippern täglich an die 45 000 Touristen von Neapel auf die Insel Capri, das entspricht der Einwohnerzahl Dachaus, dabei hat die malerische Insel nicht mal ein Drittel der Fläche der Großen Kreisstadt. Der Beliebtheit tut das keinen Abbruch: Die durchschnittliche Bewertung der Google-Nutzer beträgt 4,7 von fünf Sternen. Capri ist ein Phänomen. Dazu kann man auch gut zwei Kunstausstellungen parallel machen, wie derzeit in Dachau.

Noch bis März 2023 beleuchtet "Saluti da Capri!" in der Neuen Galerie die "Insel zwischen Idylle und Tourismus". Zu sehen sind zeitgenössische Arbeiten meist italienischer Künstler, die eine Welt zeigen aus Luxus-Yachten und billigen Monobloc-Stühlen, aus dem Stimmengewirr der Touristenmassen, die an der sonnigen Piazzetta ihren Spritz schlürfen und der Tristesse der verwaisten Plätze im Regen, wenn die Saison vorüber ist und die Winterstürme das Mittelmeer aufpeitschen.

Sehenswürdigkeiten sind hier meist nur Randerscheinungen. Oder Kulisse

Berühmt ist Capri vor allem wegen der Blauen Grotte und der vier "faraglioni". In der Antike sollen auf den schroffen Felsnadeln vor der Küste Feuer entzündet worden sein, um den Seeleuten die Navigation zu erleichtern. Die neapolitanische Fotojournalistin Raffaela Mariniello hat das Motiv kunstvoll verfremdet und in einem riesigen Leuchtkasten mit dem Schriftzug "Saluti da Capri!" gesetzt: Grüße aus Capri. Klingt nach Postkarte. Sieht auch ein bisschen so aus. Auf dem kontraststarken Schwarzweißfoto glänzt das Meer wie eine Fläche aus poliertem Stahl, jede noch so geringe Wellenbewegung ist durch die Langzeitbelichtung glattgebügelt, an den Felsen wird aus dem Schäumen und Schwappen der Wellen ein geheimnisvoller, weicher Schimmer.

Der Leuchtkasten ist zugleich optisches Empfangssignal und Irrlicht in dieser Ausstellung. Die Sehenswürdigkeiten sind hier nämlich meist nur Randerscheinungen. Oder eine Kulisse der anderen Art. Unter dem Titel "Illimitata" ist vom Capreser Fotografen Enrico Desiderio ein furchterregend schönes Bild der "Limitless" zu sehen. Zur Zeit ihres Baus 1997 war sie die größte private Jacht der Welt, Gesamtlänge mehr als 96 Meter. Wie ein mit schwarzem Piano-Lack überzogener Schädel eines Riesenwals ragt der Bug empor, die brutale Zurschaustellung von Reichtum verfinstert den Himmel. Die vier mächtigen Faraglioni sieht man nur in der Ferne, degradiert zu dekorativen Tupfern am Horizont.

Fehlt nur noch die Madonna mit Kind

Die schönsten Arbeiten dieser Ausstellung stammen von Raffaella Mariniello. Sie zählt zu Recht zu den bekanntesten Fotokünstlerinnen ihres Landes. Das Bild "Eremo / Osservatorio" von 2016 gleicht mehr einem Renaissancegemälde als einer Fotografie. Durch die Fensteröffnungen einer alten Einsiedelei aus dem 15. Jahrhundert geht der Blick auf die Steilküste mit den Faraglioni-Felsen.

Das Bild ist streng symmetrisch komponiert, die drei Rundbogenfenster erinnern an die Anordnung eines dreiteiligen Altarbilds. Durch das rechte Fenster fällt ein gleißender Sonnenstrahl, im linken Fenster sieht man wie gemalt in alter Sfumato-Technik die Felsnadeln im Nebel schimmern, und wären die Wände nicht mit Graffiti zerkratzt und der Boden übersät von Tierexkrementen, könnte dies auch ein altmeisterliches Gemälde sein. Man müsste nur noch eine Madonna mit Kind in den Raum stellen.

Die spektakuläre Villa Malaparte am Capo Massullo ist Gegenstand der farblich stark reduzierten Arbeiten des deutschen Architekturfotografen Klaus Frahm: Die Aussicht aus den großen Panoramafenstern über dem Meer wirken in ihrer makellosen Grandezza selbst wie riesige Landschaftsgemälde. Die Möblierung ist karg, die Räume leer. "Traurig, hart, streng", so wollte der Literat Curzio Malaparte das Haus erbaut haben - von der gleichen Art, wie er behauptete, selber zu sein. Nicht nur in Architektenkreisen ist das Gebäude mit seiner riesigen Freitreppe berühmt, es spielt auch eine tragende Rolle im Godard-Film "Le Mépris", ("Die Verachtung"): Brigitte Bardot räkelt sich auf der riesigen Terrasse in der Sonne.

Im Mittelpunkt der Ausstellung steht die Installation eines echten Capresen: Gianluca Federico. Seine Familie lebt seit mehr als acht Generationen auf der Insel. In seinem Atelier an der Via Madonna delle Grazie gestaltet der Künstler Skulpturen, die von der Natur inspiriert sind. Seine Arbeit "l'equilibrio", das Gleichgewicht, ist ein Kuddelmuddel, in dem sich abbildet, dass Federico Maler ist. Und Bildhauer. Und Dekorateur. Und wahrscheinlich noch einiges mehr.

Verschiedene Objekte hängen, liegen, auf, unter und in einem Holzgestell. Auf dem Boden: Original-Kiesel, die extra vom Strand in Capri eingeschifft wurden nebst vom Meer zermalmten Plastikflaschen, darüber hängt eine Fischerkugel aus blauem Glas (ein Vorläufer der weniger hübschen, dafür solideren Fischerbojen aus Kunststoff), ein Globus, ein deutschsprachiger Reiseführer für Capri, Skulpturen von Quallen, Thunfischen und Heringen, ein Gemälde des Fischers Antonio Spadaro, in den Monika Mann sich in den 1950er-Jahren verliebte, Pinsel, Ziervögel und ein Schutzzauber auf der Basis einer Siebziger-Jahre-Krawatte. Gekrönt wird die eigenwillige Arbeit durch einen Oktopus aus Bronze, der kopfüber in dem Gestell hängt. Man weiß gar nicht, wo man zuerst hinschauen soll.

Das Problem hat man bei Bruno Flavio nicht. Der auf Capri lebende Neapolitaner hat eine Hörstation eingerichtet, in der man "Eine Woche auf Capri" in 20 Minuten akustisch verfolgen kann - inklusive Sommergewitter und Abfahrt mit der Standseilbahn. Bei Capri-Kennern dürfte die Klangtapete manche Urlaubserinnerung wachrufen.

"So eine Ausstellung kann man nicht alleine von hier aus organisieren"

Für die Ausstellung wäre der Beitrag entbehrlich gewesen, nicht aber Bruno Flavio selbst. "So eine Ausstellung kann man nicht alleine von hier aus organisieren", sagt Jutta Mannes vom Zweckverband Dachauer Galerien und Museen. Als Kulturmanager von Capri und Neapel ist Flavio bestens in der italienischen Kunstszene vernetzt. Auf Dachauer Seite half Tanja Jørgensen-Leuthner, die Kontakte zu knüpfen. Sie hat darin Erfahrung. Als Italienisch-Muttersprachlerin im Kulturamt kümmert sie sich federführend um die Städtepartnerschaft mit Fondi.

Auch für die Präsentation der historischen Bilder in der Gemäldegalerie hat es in den Monaten zuvor regen Reiseverkehr nach Capri gegeben. Mit dabei war nicht nur die Chefin des Zweckverbands und Leiterin der Gemäldegalerie, Elisabeth Boser, sondern auch der Dachauer Oberbürgermeister Florian Hartmann, der gerade den Vorsitz bei Euro Art innehat. In dem Verbund haben sich die Vertreter der europäischen Künstlerkolonien des 19. Jahrhunderts organisiert. Capri hat diesen Status noch nicht, aber das könnte sich in absehbarer Zeit ändern; dem Vernehmen nach ist von italienischer Seite bereits ein entsprechender Antrag in Vorbereitung.

Saluti da Capri! Eine Insel zwischen Idylle und Tourismus. Ausstellung in der Neuen Galerie Dachau. Öffnungszeiten Dienstag bis Sonntag und an Feiertagen jeweils von 13 bis 17 Uhr. Die Ausstellung geht bis 12. März 2023.

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