Süddeutsche Zeitung

Außenpolitik:Verzagen und versagen

Grünen-Politiker Omid Nouripour verurteilt in einer Online-Veranstaltung von Beate Walter-Rosenheimer die Afghanistan-Politik der Bundesregierung.

Von Peter Bierl, Fürstenfeldbruck

Statt die Menschen schnell in Sicherheit zu bringen, die für die Bundeswehr gearbeitet haben, seien sich Außenminister Heiko Maas (SPD), Innenminister Horst Seehofer (CSU) und Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU) darin einig gewesen, die Zahl der Menschen, die zu retten wären, möglichst niedrig zu halten. Diesen Vorwurf erhob Omid Nouripour, außenpolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion der Grünen, bei einer Online-Veranstaltung am Dienstag. Knapp zwei Dutzend Zuhörer nahmen daran teil, zu der die Bundestagsabgeordnete Beate Walter-Rosenheimer eingeladen hatte.

Dass etwa nur Kernfamilien gerettet werden sollten, was Volljährige ausschließt, sei unfassbar. Er kenne eine Familie, die ihre 19-Jährige Tochter nicht alleine zurücklassen wollte, und die sich deshalb nicht auf die Evakuierungsliste setzen ließ, erzählte Nouripour, der insgesamt 18 mal in Afghanistan war, und zwar in allen Teilen des Landes. Er beherrscht die Sprache und hat viele Kontakte. Er berichtete von Menschen, die auf den Todeslisten der Taliban stehen und sich irgendwo verstecken. "Die sitzen im Keller, können nicht raus und die Lebensmittel sind bald weg", sagte er. Besonders würdigte Nouripour jene Frauen, die in den Städten mit dem Mut der Verzweiflung trotz der Bedrohung durch Waffengewalt noch für ihre Rechte demonstrierten. "Das ist mehr als Courage", betonte er.

"Sie haben bisher jedes Versprechen gebrochen"

Dass die Taliban sich geändert hätten, sei völlig ausgeschlossen. "Sie haben bisher jedes Versprechen gebrochen", sagte Nouripour. Die Burka werde wieder eingeführt, es gebe Todeslisten und Massenexekutionen, und Funkmasten würden demontiert, um den Zugang zum Internet zu verhindern. Die Zusage an die US-Regierung, nicht mit den Terroristen von Al-Qaida oder dem Islamischen Dschihad zu kooperieren, werde nicht eingehalten.

Zwar sei die "unglaubliche Geschwindigkeit nicht absehbar" gewesen, mit der die Taliban vorrückten, allerdings wussten alle, dass die afghanische Armee nicht lange Widerstand leisten könnte. Diese habe in den vergangenen zehn Jahren ein Drittel ihrer Mannschaft verloren, darüber wären andere Streitkräfte längst auseinandergefallen. Außerdem würden die Taliban von Teilen der Bevölkerung durchaus unterstützt, unter den Paschtunen etwa hätten sie die Meinungsführerschaft.

Nouripour berichtete, dass amerikanische Stellen am 11. August gefragt hätten, ob sie deutsche Ortskräfte mit evakuieren sollten, aber die Bundesregierung habe abgelehnt mit Verweis auf die laufenden Visaverfahren. Selbst am 13. August hätte die Regierung noch getan, als habe man ganz viel Zeit. Zwei Tage später rückten die Taliban in Kabul ein. Die Bundesregierung stünde nun vor dem "Scherbenhaufen" ihrer Afghanistan-Politik, Nouripour warf ihr komplettes Versagen vor.

Allerdings ist kein Minister zurückgetreten, ausbaden müssen es die Menschen, die für die Besatzungstruppen gearbeitet haben, oder sich für eine demokratische Entwicklung einsetzten. Der Effekt für andere Auslandseinsätze, etwa in Mali, sei verheerend, warnte er. Die Ortskräfte dort würden genau registrieren, dass Deutschland die Afghanen im Stich lasse.

"Sie wollen das Land zurück in die Steinzeit führen"

Nouripour kritisierte auch das weitere Vorgehen der Regierung, insbesondere des Außenministers. So hätten die Taliban die bewaffnete Opposition im Pandschirtal angegriffen, mit Unterstützung pakistanischer Jagdbomber. Er habe Maas im Ausschuss danach gefragt, der habe geantwortet, er habe keine Erkenntnisse darüber, obwohl er vergangenen Woche in Pakistan war, für Nouripour ein weiterer Beleg für eine "armselige Ambitionslosigkeit".

Derzeit werde in Doha mit den Taliban verhandelt, um einige hundert deutsche Staatsbürger, dazu Ortskräfte sowie Journalisten und Frauenrechtlerinnen zu evakuieren. Dafür gebe es Listen, allerdings sei die Eintragungsfrist abgelaufen. Dass es eine solche Frist überhaupt gebe, rügte Nouripour als unmöglich. Und er kritisierte, dass die Bundesregierung den Taliban schon eine halbe Milliarde Euro in Aussicht gestellt habe, sofern diese Entwicklung und Frauenrechte gewährleisteten. "Die werden das Geld nehmen und machen, was sie wollen. Sie wollen das Land zurück in die Steinzeit führen."

Der außenpolitische Experte der Grünen rät zwar zu Gesprächen mit den Taliban, "aber man muss mit denen reden, wie man mit Geiselnehmern spricht" Um eine Hungerkatastrophe zu vermeiden, könne Deutschland zwar Geld geben, aber auf keinen Fall direkt an die Taliban, sondern eine solche Unterstützung müsse über die UNO abgewickelt werden.

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SZ vom 09.09.2021
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