Süddeutsche Zeitung

Zu viele Vorschriften:Hilferuf gegen den Bürokratiewahn

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Ehrenamtliche, Vereine und Behörden leiden unter der Last immer neuer Auflagen. Landrat Stefan Löwl wendet sich nun an das Bundeskanzleramt.

Von Anika Blatz, Dachau

Sicherheitsauflagen und wachsende Bürokratie machen Ehrenamtlern im Landkreis das Leben schwer. Einige geben sogar auf. Manche Veranstaltung wie das Straßenfest "Lange Tafel" in Dachau steht auf der Kippe. Auch die öffentliche Verwaltung leidet unter der Auflagenflut und den nicht mehr überschaubaren Haftungsrisiken. Lösen lässt sich das Problem auf der kommunalen Ebene nicht. Landes- und Bundespolitik sind zuständig. Problembewusstsein und der Wille zur Entschärfung ist zwar vorhanden, doch es fehlen Lösungsansätze und ein entschieden umgesetzter Paradigmenwechsel.

Das spürt auch Landrat Stefan Löwl (CSU). Er wandte sich kürzlich mit einem schriftlichen Hilferuf an das Bundeskanzleramt. "Die Thematik hat immer spürbarere Auswirkungen. Ich mache mir ernste Sorgen über die Bereitschaft zum ehrenamtlichen Engagement, aber auch zu den behördlichen Entscheidungsprozessen", schrieb er. "Wir zerstören durch die bürokratische Überregulierung sowie die unüberschaubaren Überwachungs- und Verkehrssicherungspflichten jegliches Engagement." Den Kontakt zur zuständigen Abteilungsleiterin hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) höchstpersönlich hergestellt, sagt Löwl - nach einem Besuch der bayerischen Landräte bei der Kanzlerin im November. Sein Ansinnen wird nun von den Kollegen im Bürokratieabbau geprüft. Vorerst. Doch das Thema berührt viele Zuständigkeitsbereiche. Auflageninhalt bestimmt die Landesgesetzgebung, für Haftungsrisiken ist das Bundesjustizministerium zuständig.

Auf Landesebene beschäftigt sich vor allem Walter Nussel mit der Materie. Er ist Landtagsmitglied der CSU und Beauftragter für Bürokratieabbau der bayerischen Staatsregierung. Er wolle weg von der Null-Toleranz-Grenze bei den Haftungsfragen, sagt er. "Ich kämpfe dafür, dass wir wieder mit normalem Menschenverstand an die Sache herangehen." Er will auch im Justizministerium "ein Bewusstsein für die Konsequenzen gerichtlicher Entscheidungen schaffen". Nussel versucht zu vermitteln, holt Betroffene und Ministerien an einen Tisch. Gerade hat er sich daran gemacht, spezielle Leitfäden zu entwickeln, die Orientierung im Haftungsdschungel bieten sollen. Zum Beispiel zum richtigen Umgang der bayerischen Kommunen bei der Aufsicht an Seen und Schwimmbädern. Er räumt aber auch ein, dass er intern immer wieder an Grenzen stößt und sich mit seiner Arbeit nicht gerade beliebt macht. Statt zu entbürokratisieren, forderten viele Stellen immer noch mehr Regelungen und Verbote.

Diese Erfahrung hat auch der Dachauer Oberbürgermeister Florian Hartmann (SPD) gemacht: "Seit ich im Amt bin, habe ich noch keinen Bürokratieabbau erlebt - im Gegenteil: Es wird immer verrückter!" Er finde die Entwicklung bedauerlich: "Wir leben mittlerweile in einem Land, in dem alles extrem ist. Was wir brauchen, ist mehr gesunder Menschenverstand und mehr Pragmatismus". Die Stadt hat sogar einen Mitarbeiter eingestellt, der sich nur um Sicherheitsthemen kümmert. Hier finden Bürger auch bei der Veranstaltungsplanung Hilfe. Die Stadt zahlt zudem immer höhere Zuschüsse wegen der gestiegenen Sicherheitskosten. Bleibt das Haftungsrisiko. "Es müssen Regelungen von ganz oben her", sagt Hartmann.

Das findet auch Löwl. Auf eine Anfrage zur Haftungsproblematik, bekam er vom Bundesjustizministerium zunächst allerdings eine wenig gedeihliche Antwort: man müsse sich einfach an alle Sicherheitsvorschriften halten, dann passiere dem Einzelnen strafrechtlich schon nichts.

Das Problem ist aber, dass genau diese Vorschriften in ihrem Umfang derart undurchsichtig und unüberschaubar sind, dass die hundertprozentige Erfüllung niemand mehr gewährleisten kann. Veranstalter riskieren, sich wegen einer Fahrlässigkeit strafbar zu machen. Landrat Löwl machte dem Ministerium dazu einen konkreten Vorschlag: eine Haftungsprivilegierung für ehrenamtliche und behördliche Veranstalter bei Fahrlässigkeitstatbeständen. Strafbar wären dann nur noch grobe Sorgfaltspflichtverletzungen. "Nur so kann man trotz Absicherungswahn gewährleisten, dass diejenigen, die im Allgemeinwohlinteresse und ohne Gewinnerzielungsabsicht handeln, weitermachen", sagt Löwl.

Stefan Kolbe (CSU), Bürgermeister von Karlsfeld und Sprecher der Landkreisbürgermeister, hält das für einen guten Einfall: "Damit könnte man das Risiko für die Ehrenamtler und Behördenmitarbeiter entschärfen. Keiner handelt doch grob fahrlässig oder gar vorsätzlich." Ob das Ministerium dem Vorschlag noch Beachtung schenken wird, ist ungewiss. Gewiss ist, dass Zuwarten das Problem verschärft. Die bisherige Veranstalterin der "Langen Tafel", Isabel Seeber, hat wegen des Haftungsrisikos bereits angekündigt, für diese Funktion in Zukunft nicht mehr zur Verfügung zu stehen. Im schlimmsten Fall wird es damit im nächsten Jahr kein Dachauer Straßenfest mehr geben. Die Untätigkeit von Bund und Land ärgert Kolbe: "Wir verlieren Ehrenamtler, Feste sterben - wann kommen die endlich zu Potte?"

Katrin Staffler, CSU-Bundestagsabgeordnete im Wahlkreis Dachau, hat Verständnis für die schwierige Lage der Kommunen: "Es kann nicht sein, dass hohe Auflagen und deren komplizierte Umsetzung zu einem Motivationsverlust im ehrenamtlichen Bereich führen." Sie wolle sich über alle politischen Ebenen hinweg dafür einsetzen, für Kommunen und Landkreise eine verlässliche Rechtsgrundlage zu schaffen. Auch die Bundestagsabgeordnete der Grünen, Beate Walter-Rosenheimer, versichert, das Problem sei in Berlin angekommen. Sie wisse um die dringend benötigte Unterstützung. Gerade haben die Grünen einen Antrag auf den Weg gebracht, in dem sie die Umsetzung der von der Bundesregierung versprochenen Entbürokratisierung fordern. Michael Schrodi, der für die SPD im Bundestag sitzt, sagt: "Auf jeden Fall müssen Lösungen gefunden werden, die den ehrenamtlichen Veranstaltern helfen, zugleich aber die berechtigten Sicherheitsbedürfnisse der Besucherinnen und Besucher von Veranstaltungen berücksichtigen." Doch dürfe ein kommerzieller Anbieter nicht deutlich schlechter gestellt werden als ein ehrenamtlicher Veranstalter. Für einen Geschädigten sei es schließlich unerheblich, wo er zu Schaden kommt.

Das sieht Landrat Löwl ganz anders: "Man kann an Ehrenamtliche nicht die gleichen Anforderungen stellen wie an jemanden, der das kommerziell macht. Ich kann doch nicht erwarten, dass die freiwilligen Helfer auch noch Geld mitbringen." Letztlich, findet Löwl, müsse diese Entscheidung auch von der Gesellschaft getroffen werden. Er pocht auf mehr Selbstverantwortung. "Wir müssen uns fragen, wie viel Lebensrisiko wir bereit sind für unsere Lebensqualität auf uns zu nehmen." Wenn sich die Gesellschaft darauf einige, dass sie ehrenamtliche Veranstaltungen behalten will, sagt Löwl, "dann muss sie, wenn wirklich etwas passiert, zu diesem Schwur auch stehen." Das sieht auch Bürgermeister Kolbe so: "Ich frage mich oft, wo die Eigenverantwortung geblieben ist. Braucht die Gesellschaft wirklich für alles einen Schuldigen?" Das Sicherheitsdenken laufe in eine Richtung, "bei der mir angst und bange wird". Hundertprozentige Sicherheit gebe es ohnehin nie, betonen beide.

Oberbürgermeister Florian Hartmann will sich Ende Juli mit dem Veranstaltungsteam der "Langen Tafel" zusammensetzen und beraten werden, wie man das Bürgerfest mit einem von der Stadt unterstützten neuen Konzept retten kann. Doch auch diese Lösung verarztet lediglich die Symptome - an der Wurzel ist das Problem damit nicht gepackt.

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Quelle:
SZ vom 04.07.2019
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