Dachau:Bezaubernd bizarr

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Sechs Stunden Entdeckungsfahrt, sechs Stunden spannende Unterhaltung mit professionellen Schauspielern. Auch bei der dritten Late-Night-Lesung in Dachau passt die ausgewählte Literatur perfekt zu den ungewöhnlichen Örtlichkeiten.

Von Katharina Müller

Die Lautsprecher knacken. Die Stimme des Imams hallt durch den stillen Vorraum. Unbewegt lauschen die Besucher dem melodischen Gebet, ohne ein Wort zu verstehen. Kurz darauf kehrt Stille ein, die Tür öffnet sich und Mathias Kopetzki kommt in Socken heraus. "Jetzt können wir anfangen", sagt er. Darauf haben die Menschen am Freitagabend gewartet: Sie ziehen ihre Schuhe aus und folgen ihm in den dunklen, mit Teppich ausgelegten Gebetsraum der Ditib Moschee in der Von-Herterich-Straße. Vor den türkis- und ockerfarbenen Mosaik-Fliesen der beleuchteten Gebetsnische entführt der Berliner Schauspieler und Autor seine Zuhörer für zwanzig Minuten in den Iran.

Mathias Kopetzki, der zurzeit am Staatstheater in Cottbus spielt, war bisher bei jeder der drei Dachauer Shuttle-Lesungen dabei. Elf Mal liest er an diesem Abend vor wechselndem Publikum aus seinem Buch "Teheran im Bauch". Wird man da nicht irgendwann müde? "Ich wähle jedes Mal einen anderen Kapitalanfang, da bin ich spontan. Das ist weniger anstrengend, als immer wieder die gleiche Stelle vorzutragen", verrät er und schmunzelt: "Außerdem lese ich dann mein Buch selbst mal wieder im Ganzen."

Für seine Zuhörer geht es mit einem Shuttle-Bus weiter zu einer der neun Lesestationen, die im 30-Minuten-Takt angefahren werden. Von 18.30 Uhr bis Mitternacht lesen dort Schauspieler dem interessierten Publikum für 20 Minuten vor. An der Haltestelle vor der Moschee wartet Andrea Klameth mit zwei Freundinnen auf den Bus. Die drei Frauen sind noch unentschlossen, welche Station sie als nächste besuchen wollen. Eine feste Reihenfolge gibt es nicht. Die Besucher wählen selbst, welche Lesung sie anhören möchten. Die Stationen rund um das Rathaus sind gut zu Fuß zu erreichen. Ein junger Mann empfiehlt ihnen, den Wasserturm zu besuchen. Dort spielen Gaby Fischer und Hubert Schedlbauer, die bereits gemeinsam auf der Bühne des Theaters in Regensburg standen, in gleißendem Scheinwerferlicht eine Szene aus Vacláv Havels "Vernissage". Die Schauspielerin streckt plötzlich einem Mann aus dem Publikum eine verdorrte, rote Blume entgegen und ruft euphorisch: "Ach Ferdinand, das ist aber schön, dass Du uns besuchen kommst!" Und schon ist der Ahnungslose involviert: Ehe sich "Ferdinand" versieht, sitzt er zwischen den beiden Schauspielern auf einer Holzbank und bekommt Erdnussflips am Spieß serviert.

Andrea Klameth war schon drei Mal bei der Shuttle-Lesung dabei. "Die Schauspieler sind einfach genial. Selbst wenn der Text einmal nicht viel hergibt, machen sie das mit ihrem Können wett." Begeistert ist sie auch von Tinka Kleffner, die schwarz gekleidet am wohl ungewöhnlichsten Ort liest. Im Abschiedsraum des Bestattungsunternehmens Hanrieder zitiert sie auf einer Sarg-ähnlichen Attrappe sitzend aus Jan Nerudas "Der Taugenichts". Der mit Kerzen beleuchtete, stille Raum ist der passende Ort, um einen Teil der Geschichte über Franz Horáček zu hören, die von dessen Beerdigung handelt.

Die Abstimmung der Leseorte auf die ausgewählten Texte macht die Dachauer Late Night zu einem besonderen Erlebnis. Von hohen Lehnstühlen aus können etwa im alten Sitzungssaal im Rathaus die Zuhörer Christian Ballhaus eine Szene aus "Die Sorge um den Menschen" von Jìři Marek lesen hören - ein satirischer Text über den Kleinkrieg zwischen zwei Ämtern, die sich anhand der Arbeitsbelastung ihrer Angestellten messen.

Wesentlich kühler geht es im Keller der Papierfabrik zu, wo Stefan Wurfbaum zwischen Papierfetzen einen Ausschnitt aus Bohumil Hrabals "Allzu laute Einsamkeit" inszeniert. Der Schauspieler aus Aachen liest nicht nur vor, sondern wird durch seine Performance selbst zur Romanfigur Hanta, der in einer Fabrik Altpapier presst.

Die Shuttle-Lesung bringt ihre Besucher aber auch an Orte, die man unter normalen Umständen eher ungern besucht. Dazu zählt der Gerichtssaal im Amtsgericht. Schauspieler Murali Perumal trägt vom Richterstuhl aus "Der Prozess des Herrn Havlena" von Karel Čapek vor. Die Zuhörer, die sich wie Angeklagte und Kläger gegenübersitzen, amüsieren sich über die bizarre Geschichte. Dass beide Seiten des Gerichtssaals am Ende begeistert applaudieren, passiert an diesem Ort mit Sicherheit sehr selten.

Ein wenig aus der Reihe fällt die Lesung von Jaromir Konecny. Dem Inhalt seines Texts "Comedy" nach, müsste der tschechische Autor und Schauspieler eigentlich in einem Yoga-Studio lesen. Viel lieber aber begeistert er die Zuhörer im Dachauer Gitarren Zentrum (DGZ). In blauem V-Shirt, Jeans und Turnschuhen steht er breitbeinig vor dem Publikum und bringt die Zuhörer mit seiner Gulaschgeschichte zum Lachen. Konecny, aus dessen Roman "Tote Tulpen" ein paar Straßen weiter im Haus der "Brücke" Rafael Meltzer liest, freut sich, wieder dabei sein zu dürfen: "Ich lese heute zu Ehren von Carmen und Andy und dem Gulasch", lässt er freudestrahlend wissen. Andreas und Carmen Steffen, die Besitzer des DGZ, versorgen das Publikum derweil mit tschechischem Bier - und hausgemachtem Gulasch natürlich.

© SZ vom 19.05.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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