Dachau/ Berlin:Parallelwelt hinter Pappe

Auf der Straße

Die Darsteller (v.l.) Alexandra Zipperer, Bettina Hoppe, René Wallner, Psy Chris und Nico Holonics. Zwei von ihnen sind Schauspieler des Berliner Ensembles, drei bat die Regisseurin für ihr Stück von der Straße auf die Bühne.

(Foto: Julian Röder)

In ihrem neuen Stück gibt die Dachauer Regisseurin Karen Breece Obdachlosen eine Stimme

Von Anna-Elisa Jakob, Dachau/ Berlin

Im aktuellen Stück der Dachauer Regisseurin Karen Breece stehen fünf Personen auf der Bühne: Alexandra Zipperer, die von sozialer Grundsicherung lebt - 70 Euro im Monat - und regelmäßig zur Tafel geht. Psy Chris, ein ehemaliges Heimkind, das von Heim zu Heim geschickt, gequält und gefoltert wurde, psychisch erkrankte und letztlich auf die Straße floh, wo er sich einer Punk-Gruppe anschloss. Es gibt René Wallner, aktuell obdachlos, der bewusst nicht "Teil dieser Armutsindustrie" sein möchte. Eine alleinerziehende Mutter, die von Hartz IV lebt. Und die Figur des Politikers, der die Stimmen von Öffentlichkeit und Verantwortlichen in sich vereinen soll. Zwei der Figuren sind fiktiv, der Politiker und die alleinerziehende Mutter werden von Schauspielern des Berliner Ensembles gespielt. Die weiteren drei hat Karen Breece von den Straßen Berlins auf die Bühne geholt und ihnen eine Stimme in ihrem Theaterstück gegeben.

"Für mich ist wichtig, dass wir nicht nur über die Menschen sprechen, um die es geht, sondern sie für sich selbst sprechen lassen", erklärt die Regisseurin. Die Begegnung auf Augenhöhe, ein würdevoller Umgang mit den Menschen auf der Straße - genau das fehle in der Öffentlichkeit. Sie beschreibt Psy Chris, Alexandra Zipperer und René Wallner als "Gäste" in ihrem Theaterstück, schildert ihre Schicksale einzeln und so, dass jede Person für sich selbst steht. Die Bezeichnung "Gast" nahm Breece aus ihrem Besuch im Hygienecenter der Berliner Stadtmission mit, einem der prägendsten Eindrücke ihrer monatelangen Recherche. Dort gibt es eine Fußpflegestation, einen Friseur und vor allem freie Duschen und medizinische Versorgung für Wohnungslose. Der Anblick der Hilfesuchenden - der Gäste - und die leidenschaftliche Arbeit der Helfer beeindruckten Karen Breece nachhaltig.

Das Stück "Auf der Straße" basiert - wie sämtliche Werke der Regisseurin - auf Interviews und Gesprächen, die sie im Vorfeld mit Betroffenen geführt hatte. Karen Breece sprach mit Menschen, die auf der Straße leben, mit Hartz-IV-Empfängern, mit Helfern, Sozialarbeitern und Politikern. Die gesamte Recherche dauerte rund ein halbes Jahr. Das fertige Stück ist weder eine Nacherzählung, noch ist sie allein der Fantasie der Autorin entsprungen. "Es changiert zwischen Fiktion und Dokumentation", erklärt Karen Breece. Es ist Teil des Programms des Berliner Ensembles - und findet großen Zuspruch. "Die Vorstellungen sind stets ausverkauft." Im Februar wird das Stück das Brecht-Festival in Augsburg eröffnen.

Im Zuge ihrer Recherchen sah und erfuhr die Regisseurin selbst, wie Menschen auf den Straßen Berlins alleingelassen wurden. Menschen, die Hilfe benötigen, die zu einem großen Teil psychisch erkrankt sind und selbst nicht aus der Spirale der Obdachlosigkeit herausfinden. Und sie fragte sich: Wie kann das passieren - in einem der reichsten Länder Europas?

"Die Politik hat vor zwanzig Jahren entscheidende Fehler gemacht", sagt die Regisseurin und meint damit vor allem, dass staatlicher Wohnraum privatisiert, die Kontrolle daran abgegeben und so die Entwicklung hin zu unbezahlbaren Mieten in den Ballungsgebieten vorangetrieben wurde. Obdachlosigkeit erreiche mittlerweile die Mittelschicht, treffe Rentner und junge Familien. Sowohl Ursachen als auch Lösungsansätze seien jedoch sehr vielfältig und komplex, auch das zeigten ihre Recherchen. "Monokausale Antworten gibt es hier nicht", betont sie. Den vielfältigen Bedürfnissen könne das aktuelle System nicht gerecht werden. Es brauche mehr Anlaufstellen, mehr Personal - vor allem, um Menschen an die Hand zu nehmen, mit ihnen zum Arzt oder auf das Amt zu gehen.

In der Person des Politikers lässt Breece sämtliche Stimmen aus Gesprächen mit Politikern und Verantwortlichen zusammenfließen. Die Regisseurin möchte widerspiegeln, wie die Welt derjenigen, die heute in prekären Verhältnissen leben, von der bürgerlichen Welt abgetrennt ist. Die Figuren bieten die Möglichkeit für das Publikum, sich mit ihr zu identifizieren - und genau so ganz besonders zum Nachdenken anzuregen. "Aus dem Theater raus, in die Bevölkerung rein", formuliert es die Regisseurin.

Das Stück richte seinen Appell nicht zwingend an die Politik, sondern an die Bevölkerung, an jeden Einzelnen: hinzuschauen, nicht die Augen zu verschließen, sich der Situation obdachloser Menschen bewusst zu machen. Denn, so Karen Breece: "Man kann sie nicht übersehen."

Menschen, die auf der Straße lebten, verlieren ihre Würde - weil sie nicht mehr gesehen werden, nicht mehr wahrgenommen werden. Karen Breece hofft, durch ihre Inszenierung zur öffentlichen Aufklärung beizutragen, Bewusstsein und Empathie zu wecken und eine Welt sichtbar zu machen, vor der große Teile der Gesellschaft die Augen schließen würden.

Für Darsteller Psy Chris brachte das Theaterstück bereits eine große Veränderung: Er arbeitet nun am Berliner Ensemble und ist vor kurzem in seine eigene Wohnung gezogen.

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