Süddeutsche Zeitung

Ausstellung:Nicht von Pappe

Lange galt der Papierschnitt als hübsches, aber wenig aufregendes Relikt des europäischen Biedermeier. Die Neue Galerie Dachau zeigt nun eine Auswahl zeitgenössischer Arbeiten, die sowohl durch ihre große Vielfalt als auch ihre Originalität beeindrucken.

Von Gregor Schiegl, Dachau

- Étienne de Silhouette hatte das Pech, unter Ludwig XV. zum französischen Generalkontrolleur der Finanzen berufen zu werden. In seine Amtszeit fiel der Siebenjährige Krieg: Der erste Konflikt der Weltgeschichte, der auf mehreren Kontinenten gleichzeitig stattfand, verschlang Unsummen. Mit Frankreichs Finanzen ging es bald bergab, mit Silhouette auch; sein Renommee schwand. Am Ende seiner Tage soll er nur noch ein Schatten seiner selbst gewesen, eine Silhouette sozusagen. Er hauste in seinem Château, umgeben von Scherenschnitten, für die er große Leidenschaft hegte. Böse Zungen behaupten, dem alten Geizhals seien richtige Gemälde bloß zu teuer gewesen.

Heutzutage interessiert sich kaum noch einer für den bedauernswerten Monsieur Silhouette, geschweige denn für Scherenschnitte. Dass die Neue Galerie Dachau sich in ihrer neuen Ausstellung dem Thema "zeitgenössische Papierschnitte" widmet, mag manchen Zeitgenossen zunächst herzhaft gähnen lassen. Papier, mon dieu! Doch zu früh gegähnt, messieurs dames! Mit biedermeierlichen Charakterprofilen oder Blümchenmotiven haben diese Arbeiten nichts am Hut.

Optische Anleihen finden kann man allenfalls noch bei den filigrane Silhouetten wilder Gewächse aus schwarzem Tonpapier, die die belgische Künstlerin Victoria Martini geschaffen hat. Entfernt erinnern sie an den biedermeierlichen Stil eines Philipp Otto Runge, doch auf den zweiten Blick erkennt man, dass hier etwas nicht stimmen kann: Die dekorativ gewundenen Ranken mit ihren herzförmigen Blättern wuchern aus einer bodenkriechenden Pflanze, einer Venusfliegenfalle, deren Fangapparate aufgerissenen Mäulern mit Fangzähnen gleichen. Martinis pflanzliche "Hybride" sind künstliche Gebilde, kreativ zusammengemendelt: Hier bildet der Papierschnitt nicht die Natur nach, hier erschafft er sie neu. Schnippeln gegen den Artenschwund, könnte man sagen.

Aber was heißt da Schnippeln, längst wird das Papier nicht mehr mit der Schere geschnitten, sondern mit einer feinen Klinge, was weitaus komplexere Formen zulässt als bloße Silhouetten. Der Dachauer Grafiker Martin Off macht es vor mit seinen skurrilen Charakterköpfen und Karikaturen. Die bringt er mit krakeligen Linien aufs Papier, als würde während des Zeichnens die ganze Zeit die Erde beben; Dieses Vibrierende macht die Lebendigkeit seiner Figuren aus. In dieser Ausstellung sind die Köpfe als Papierschnitte zu sehen, jede noch so feine krumme Linie ist akkurat ausgeschnitten, die ulkigen Damen und Herren werfen sogar einen eigenen Schatten auf das hinterlegte Papier. Mehr Persönlichkeit geht kaum.

Ähnlich wie Off setzt auch die israelische Künstlerin Zipora Rafaelov auf die Auflösung des Bildes in ein filigranes Gewebe von Linien, das aus sehr viel Luft und extrem wenig Papier besteht. Nicht nur die feinchirurgische Kunstfertigkeit des Schnitts versetzt den Betrachter in Staunen. Die extrem elaborierten Szenen überlagern sich auch noch mehrfach: sinnliche Frauenfiguren, Blätter und Blumen und hebräische Schriftzeichen, alles ist miteinander verwoben. Eine Serie zeigt die Personifizierung der fünf Sinne, ein Sujet, das schon in der niederländischen Malerei des 16. und 17. Jahrhunderts populär war. Rafaelov adaptiert es neu und besetzt es mit fünf hebräischen Mädchen: Chefziba, Shira, Yona, Bosmat und Ahuva.

Abstrakt und damit auch für den zeitgenössischen Papierschnitt eher ungewöhnlich ist die Arbeit "düm tek tek" der deutsch-türkischen Künstlerin Ergül Cengiz. Von der Decke bis zum Boden hängen zeltförmig zwei breite fünf Meter lange Vorhänge im Girih-Muster, ein Gestaltungselement islamischer Kunst, das oft in islamischer Architektur und islamischem Kunsthandwerk anzutreffen ist. In der Überschneidung der Linien entstehen sternförmige geometrische Strukturen. In das Muster hat die Künstlerin Löcher geschnitten, einzelne Stege fehlen. Doch ob da wirklich etwas fehlt, ist immer eine Frage der Perspektive. Die Strukturen der hintereinanderhängenden Vorhänge überlagern sich, ergänzen einander, verbinden sich, und wenn die Lichtverhältnisse entsprechend sind, schafft der Schatten sogar noch ein dritte Ebene.

Schon diese wenigen Beispiele zeigen, wie weit sich der Papierschnitt aus der ästhetischen, thematischen und kulturellen Begrenztheit seines biedermeierlichen Vorgängers befreit hat. "Ich wollte in dieser Ausstellung ein möglichst breites Spektrum darstellen", erläutert Kuratorin Jutta Mannes. Der Titel "Schwarz//Weiß", der zugleich Konzept ist, setzt der Vielfalt einen Rahmen. Nur Schwarz-Weiß-Arbeiten werden gezeigt, was verlässlich für eine stimmige Optik sorgt.

Bunt treiben kann man es auch in Schwarz-Weiß zu Genüge: Die Mobiles des Münchner Künstlers Sebastian Pöllmann versammeln zehn erotische Szenen aus dem Kamasutra, als motorbetriebenes Schattentheater erwachsen sie zum Leben. Die "Hauptdarsteller*innen", so der Titel, führen vor, was Mann und Frau mit ein wenig Gelenkigkeit so alles miteinander anstellen können. Zum Schauspiel macht das Ganze erst die Bewegung des Mobiles vor einer Lichtquelle, die den volkstümlichen Figuren durch den Schattenwurf ihre Körperlichkeit gibt und beim Weiterdrehen wieder beraubt, ein ewiges Kommen und Gehen. Mag die Vorführung der liebestollen Darsteller auch explizit sein, die Wirkung dieses unscharfen Reigens ist eher märchenhaft. Traumatisierende Folgen für Minderjährige sind davon im Jahr 2021 wohl eher nicht mehr zu befürchten.

Schön und zugleich beklemmend in seiner düsteren Plastizität ist Andreas Kocks Relief "Der Schaum dieser Tage". Auf mehreren Ebenen vor und hintereinander sind Blasen wie von einem teerschwarzen Badeschaum gesetzt. Die Bearbeitung des Büttenpapiers mit Graphit verleiht den zarten Gebilden einen unheilvollen Glanz. Der Titel verweist auf den surrealen, sich fortwährend verdüsternden Roman "L'Écume des jours" von Boris Vian von 1946, in der es Cocktailpianos gibt, aber auch tödliche Wasserlilien, die sich in Lungen einnisten.

Eine ganze zauberhafte, originelle Arbeit ist auch der Objektkasten der in Niederbayern lebenden Madeleine Schollerer. Wie in einer naturkundlichen Sammlung sind Schmetterlinge unterschiedlicher Form und Größe aus schwarzem Tonpapier in eine Kiste gepinnt. Erst auf den zweiten Blick fällt auf, dass sich drei Kampfflugzeuge darunter befinden. Reduziert auf ihre Form und aufgespießt wie tote Insekten verlieren sie ihren Schrecken und erscheinen dem Betrachter nur mehr wie ein kurioses Kinderspielzeug.

Die Arbeiten der Leipziger Künstlerin Annette Schröter, einem Shootingstar der deutschen Papierschnittszene, sind von der idyllischen Bürgerlichkeit, wie sie zu Silhouettes Zeiten herrschte, maximal weit entfernt, ästhetisch wie inhaltlich. Frei auf eine Wand montiert zeigt ihre Exponat "Wildwuchs 1" eine von Efeu überwucherte Backsteinmauer, mit lieblosen Graffiti beschmiert, ramponiertes, bröckelndes Gemäuer. Im Biedermeier wäre so ein Motiv undenkbar gewesen. "Als darstellungswürdig galt nur das Schöne", sagt Jutta Mannes. Schröters Reduzierung auf die Fläche und der Verzicht auf Details bringen die dem Verfall innewohnende Zerstörung noch drastischer zum Ausdruck. Würde Monsieur Silhouette sehen, was aus den Handarbeiten seiner Tage erwachsen ist, er würde Augen machen!

Schwarz-Weiß. Zeitgenössische Papierschnitte. Neue Galerie Dachau. Geöffnet Dienstag bis Sonntag und Feiertag 13 bis 17 Uhr. Die Ausstellung ist noch zu sehen bis 25. Juli.

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Quelle:
SZ vom 15.05.2021
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