Süddeutsche Zeitung

Dachau:Auschwitz ist nicht nur ein Name

"Ihr seid jetzt die Lehrer": Der Vortrag des KZ-Überlebenden Bernard Marks bewegt die Jugendlichen in Dachau tief.

Helmut Zeller

Vielleicht ist es der berührendste Moment, als der 79-jährige Bernard Marks sich zu einer weinenden Schülerin hinunterbeugt und sie tröstet. "Du bist nicht daran schuld", sagt er zu ihr. Fast alle Jugendlichen, auch ihre beiden Lehrerinnen, kämpfen mit den Tränen. Während seines fast zweistündigen Vortrags war es vollkommen still im Pavillon des Jugendgästehauses Dachau. Aber Entsetzen, Mitleid und vielleicht auch Scham rufen keine Abwehr hervor, treiben die Jugendlichen gerade dazu an, Fragen zu stellen, mehr wissen zu wollen, auch über ihre Rolle, was sie die Vergangenheit angeht. "Was können wir jungen Leute tun?", fragt einer am Schluss. Marks sagt: "Ihr seid jetzt die Lehrer."

Danach ist Bernard Marks aus Sacramento in Kalifornien allein. Er wirkt einsam, wie er bedächtig Kabel aufrollt, den Laptop zuklappt, Folien und Dokumente sortiert. Aber die Jugendlichen werden ihn nicht vergessen, diesen Mann mit funkelnden Augen und viel Witz, der so fesselnd zu erzählen versteht. Vielleicht folgen sie seinem Appell, Holocaust-Leugnern und Neonazis entgegenzutreten - es liegt an jedem einzelnen, hat Marks gesagt, für eine Welt ohne Krieg und Genozid einzutreten. Sicher aber werden sie seine Geschichte weitererzählen - und sie werden nicht zu den 20 Prozent jüngerer Deutscher gehören, denen Auschwitz nichts mehr sagt.

Bernard Marks ist gerade sieben Jahre alt, als die deutsche Wehrmacht am 1. September 1939 Polen überfällt. Die Volksdeutschen in seiner Heimatstadt Lodz begrüßen begeistert die Eroberer. Sie waren gut auf die Besetzung vorbereitet, sagt Marks: Innerhalb weniger Stunden werden die polnischen Straßenschilder durch deutsche ersetzt. Lodz heißt jetzt Litzmannsstadt, deren 600 000 Bewohner sind zur Hälfte Juden. Mit seinen Eltern Jozef und Laja und seinem vierjährigen Bruder Abraham Mordechai wird er im Mai 1940 in das Ghetto der Stadt getrieben. Auf einer Fläche von viereinhalb Quadratkilometern pferchen die Deutschen 230 000 Menschen zusammen. Seine Kindheit im Ghetto: 600 Kalorien täglich bei zwölf Stunden Arbeit, Demütigungen, Todesangst und der Anblick von 40 Juden, die am Galgen hängen, darunter seine Lehrerin, umgeben von johlenden SS-Männern. Marks zeigt ein Foto der grausamen Szene, aufgenommen von einem Deutschen. Bis zur Auflösung des Ghettos im Sommer 1944 werden Zehntausende als arbeitsunfähig selektierte Juden in das Vernichtungslager Chelmo deportiert.

Sein Vater macht den Sohn drei Jahre älter. Dadurch entgeht er der Vernichtung, die Alten und kleinen Kindern droht. "Mein Vater war mein Engel", sagt Marks. Etwa 70 000 Juden leben noch im Ghetto, in das immer wieder Opfer aus ganz Europa verschleppt werden. Am 14. August wird die Familie nach Auschwitz deportiert, wo die Mutter und der Bruder sofort ermordet werden. Er und sein Vater kommen in das Dachauer KZ-Außenlager Hurlach. Der Junge muss in fünf Außenlagern des KZ Dachau bei Kaufering/Landsberg Zwangsarbeit für die deutsche Rüstungsindustrie leisten und erkrankt an Typhus. Am 27. April 1945 werden Vater und Sohn auf dem Todesmarsch von amerikanischen Truppen befreit. Bernard Marks emigriert 1947, sein Vater 1949 in die USA. 13 Jahre alt war der Junge bei seiner Befreiung - seine Kindheit waren "fünfeinhalb Jahre Leben in der Hölle".

Was denken die Schüler, wonach ein 13-jähriger Überlebender im April 1945 zuerst fragte? Marks sagt: "Wo ist eine Schule?" In den USA wird er Umweltingenieur. Seit 1995 kommt er immer wieder nach Deutschland: "Wenn ich lebe, kann ich helfen, eine bessere Welt zu machen." Seine Stiftung, die nach seiner verstorbenen Frau benannt wurde, finanziert Preise für Aufsätze von Jugendlichen über den Holocaust. Denn die Erinnerung ist wichtig. Nach der Befreiung, erzählt er, hatten die Landsberger behauptet, nichts gewusst und gesehen zu haben. Dabei hatten Häftlinge in der Stadt selbst auch arbeiten müssen. Die Deutschen sagten auch, sie hätten immer geholfen und Brot gegeben. "Wie können sie uns geholfen haben, wenn sie uns nicht gesehen haben?" Marks sagt: "Ich habe das alte Buch zugemacht." Aber: "Ich habe die Bilder immer vor mir." Die Vergangenheit ist nicht vergangen - jeder fünfte in Deutschland ist antisemitisch eingestellt, zitiert Marks aus einer Studie der Bundesregierung. Die Schüler verstehen seine eindringliche Botschaft: "Nie wieder!"

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SZ vom 21.02.2012
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