Süddeutsche Zeitung

Seebrücke Dachau:Helfer werfen Ausländerbehörde "Willkür" vor

Die Veranstaltung der Seebrücke Dachau zum Thema Asyl war lange geplant, bevor die Familie Esiovwa nach Nigeria abgeschoben wurde. Der Fall verleiht dem Thema aber neue Aktualität - und legt offen, wie tief der Frust bei den Ehrenamtlichen sitzt .

Von Jacqueline Lang, Dachau

Eigentlich sollte es ein ganz normaler Infoabend werden: Unter dem Motto "Realitätscheck Asyl - aus dem Alltag Geflüchteter und der Geflüchtetenhilfe" wollte die Seebrücke Dachau das Thema Asyl einmal ganz allgemein in den Blick nehmen und sich gemeinsam mit einer Expertin und zwei Experten anschauen, wie es in Bayern läuft, wie es im Landkreis läuft und was man konkret besser machen könnte. Durch die Abschiebung der Familie Esiovwa aus Karlsfeld vor rund zwei Wochen hat nicht nur das Thema an Brisanz gewonnen. Bei der ersten offiziellen Veranstaltung der Bewegung seit ihrer Gründung in Dachau war auch zu spüren, dass der Frust der ehrenamtlichen Helfenden enorm gewachsen ist. Sie machten an diesem Abend einen Großteil des Publikums aus.

Die Liste der Probleme, mit denen sich vor allem Geflüchtete aus Afrika und Asien konfrontiert sehen, ist lang: Laut Joachim Jacob, Mitglied des bayerischen Integrationsrats und Aktiver im Helferkreis Petershausen, wird es einem Großteil von ihnen schwer gemacht wird, hier zu arbeiten. Für Jacob ist das nur schwer nachvollziehbar: Statt die Menschen zum Nichtstun zu verdonnern und dafür Steuergelder auszugeben, könnte man sie ihr eigenes Geld verdienen lassen.

Wer ohne Fahrkarte fährt, ist noch kein Verbrecher

Die sogenannte Identitätsklärung, die Behörden von den Geflüchteten einfordern, ist noch so ein Thema, das Jacob erzürnt. In vielen Ländern sei es eben sehr schwer und sehr teuer, einen Pass zu bekommen. Schnell würden Menschen durch Regelverstöße zudem zu Straftätern abgestempelt, sodass sie sich leicht abschieben lassen. Doch Bagatelldelikte wie Schwarzfahren dürfe man nicht mit Verbrechen gleichsetzen.

Jacob stellt an diesem Abend im Adolf-Hölzel-Haus auch die Frage nach den derzeit so viel diskutierten Ermessensspielräumen, die ein Amt wie die Dachauer Ausländerbehörde hat. Um zu verdeutlichen, wie groß diese tatsächlich sind, hat er zwei Zahlen mitgebracht: 100 und 5. So viele Ausbildungsgenehmigungen haben die Landkreise Dachau und Erding innerhalb eines Jahres erteilt. Nun könnte man denken: Dann ist der Landkreis Dachau mit seinen 100 Genehmigungen ja wirklich ein Positivbeispiel. Nur: Die Zahlen sind nicht aktuell, sondern schon mehrere Jahre alt. Nanette Nadolski vom Helferkreis in Weichs wird später betonen, dass sich seitdem vieles zum Schlechteren verändert habe. Die Zahlen zeigen laut Jacob vor allem eines: Die Entscheidungen seien "frei und willkürlich".

"Es gibt immer weniger Helfer"

Diese Einschätzung teilt auch Nadolski: Die Ausländerbehörde prüfe in vielen Fällen "nicht ergebnisoffen", das hätten Rechtsanwälte bestätigt. Das alleine sei schon ein riesiges Problem. Noch schwerwiegender werde es dadurch, dass vielen Betroffenen die Möglichkeit fehle, ihre Bescheide von Dritten prüfen zu lassen. Womit man gleich beim nächsten Punkt wäre: "Es gibt immer weniger Helfer."

Die Situation der Geflüchteten verbessern, das soll laut Ampel-Regierung das Chancenaufenthaltsgesetz. Doch, so erklärt Stefan Haas vom Helferkreis Bergkirchen stellvertretend für den erkrankten Stephan Theo Reichel vom Verein "matteo - Kirche und Asyl": Vielen Betroffenen helfe das geplante Gesetz nichts, auch der Familie Esiovwa wäre damit wohl nicht geholfen gewesen.

Das bestätigt auch der SPD-Bundestagsabgeordnete Michael Schrodi. Doch er macht auch klar: Hätte es nicht so lange gedauert, bis Nicholas Esiovwa nach der erneuten Duldung eine neue Arbeitserlaubnis ausgestellt bekommt, hätten er und seine Familie sehr wohl von dem neuen Gesetzesentwurf profitieren können. Bisher sei das Gesetz nur "ein Entwurf." Bis zum Inkrafttreten - voraussichtlich im Januar 2023 - gebe es noch "einiges an Klärungs- und Änderungsbedarf".

Marese Hoffmann, stellvertretende Landrätin und Grünen-Kreisrätin, macht ein Dilemma in der aktuellen Asylpolitik aus: Den positiven Entwicklungen stünden mindestens ebenso viele negative gegenüber. Einmal mehr fordert sie eine unabhängige Instanz, die die Arbeit der Dachauer Ausländerhörde kontrolliert. Trotzdem will sie die geballte Kritik am Landratsamt nicht unwidersprochen stehen lassen: Die Kulturdolmetscherinnen und -dolmetscher etwa, die dort ausgebildet würden, leisteten tolle Arbeit, die vom Landkreis finanziert werde. Nadolski bestätigt dies und lobt vor allem die Arbeit des Integrationslotsen Julius Fogelstaller, rät Hoffmann aber trotzdem, sich mal einen Tag in die Ausländerbehörde zu setzen, um sich selbst ein Bild davon zu machen, welche Unterschiede gemacht würden zwischen Menschen aus der Ukraine und jenen aus dem globalen Süden.

Gegen Ende wird Organisator Martin Modlinger grundsätzlich: Wie kann man Geflüchteten helfen, fragt er, wie kann das System menschlicher werden? Und was kann jeder Einzelne, jede Einzelne tun? Man müsse "die Menschen begleiten", antwortet Nanette Nadolski. Um das möglich zu machen, sagt Joachim Jacob, gelte es, das Ehrenamt "wiederzubeleben". Karin Beittel, Sprecherin des Grünen-Kreisverbands, fordert eine Stabstelle für Helfende. Die Politik müsse, wenn nötig, auch finanzielle Anreize schaffen, um Menschen fürs Ehrenamt zu begeistern. Der Münchner Stephan Dengler, ebenfalls in der Asylhilfe aktiv, regt an, dass sich Hilfsorganisationen verstärkt mit Wirtschaftsverbänden zusammentun. Nach Fachkräften werde allerorten händeringend gesucht.

"Es obliegt nun dem Landrat, eine schnelle Wiedereinreise zu ermöglichen."

Mit einem konkreten Vorschlag, wie man die Familie Esiovwa aus Nigeria zurückholen könnte, meldet sich noch einmal der SPD-Abgeordnete Schrodi zu Wort: Dafür bräuchte es die Mithilfe der Dachauer Ausländerbehörde. Diese verhänge bei der Abschiebung eine sogenannte Wiedereinreisesperre. Unter "besonderen humanitären Gründen", so schreibt Schrodi auch in einer Pressemitteilung, könne diese Sperre aber aufgehoben werden, dann wäre eine sofortige Wiedereinreise möglich. Sollten die nicht gedeckten Abschiebungskosten ein Hinderungsgrund sein, werde er gerne mit einem vierstelligen Betrag aushelfen. "Es obliegt nun dem Landrat, ebenso tatkräftig wie bei der Abschiebung daran zu arbeiten, der unbescholtenen Familie eine schnelle Wiedereinreise zu ermöglichen."

Doch selbst, wenn dies nicht geschehen sollte, zeigt sich Schrodi optimistisch, dass die öffentliche Diskussion etwas bewegt hat: "Ich bin mir ganz sicher, dass sich die Ausländerbehörde die nächste Abschiebung gut überlegen wird." Klären wird sich das wohl schon in wenigen Tagen: Anfang August soll, Stand jetzt, ein junger Mann nach Sierra Leone abgeschoben werden.

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