BarrierefreiheitÜberall Stolpersteine

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Liz Hebestreit sitzt im Rollstuhl. Beengte Eingangsbereiche wie jener am MVZ-Ärztezentrum in Dachau machen jeden Praxisbesuch für sie zur Tortur.
Liz Hebestreit sitzt im Rollstuhl. Beengte Eingangsbereiche wie jener am MVZ-Ärztezentrum in Dachau machen jeden Praxisbesuch für sie zur Tortur. (Foto: Toni Heigl)

Viele Arztpraxen im Landkreis Dachau sind nicht oder nur teilweise barrierefrei - obwohl das diskriminierend ist. Schuld daran ist unter anderem das fehlende Bewusstsein für die Vielzahl an unterschiedlichen Behinderungen.

Von Katja Gerland, Dachau

Für Liz Hebestreit ist der Arztbesuch jedes Mal ein Abenteuer. Freilich keins im positiven Sinne. Es ist eines mit Hürden, die die 61-Jährige an ihre Grenzen bringen. Hebestreit lebt in Dachau, sitzt im Rollstuhl, und sagt: "Hier ist es für mich wirklich chaotisch." Obwohl sie eine aktive Rollstuhlfahrerin ist, also ohne Begleitung von A nach B kommt, ist Hebestreit bei Arztpraxen im Landkreis Dachau nahezu immer auf fremde Hilfe angewiesen. Denn: "Der Supermarkt ist hier barrierefreier als jede Praxis."

Dass medizinische Einrichtungen frei von baulichen und technischen Hindernissen für Menschen mit Behinderung sein sollten, geht aus der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen hervor. Doch die erste Barriere, erzählt Hebestreit, sei meist schon die Eingangstür der Praxen. Die lässt sich oft nicht elektronisch öffnen. Die 61-Jährige muss also warten, bis ihr jemand die Türe aufhält. Dann folgen weitere Hürden: Fehlende Aufzüge, schmale Türrahmen oder Schwellen auf dem Boden, die sie mit ihrem Rollstuhl nicht überwinden kann. "Es ist einfach entwürdigend", so die 61-Jährige.

"Dann nehmen Rollstuhlfahrer den Aufzug und stehen immer noch vor Treppenstufen"

Wenn man Hartmut Baumgärtner am Telefon von diesen Erfahrungen erzählt, ist er keineswegs überrascht. Er ist der Behindertenbeauftragte des Landkreises und der Stadt Dachau und zeichnet ein düsteres Bild: Nur etwa ein Drittel der Arztpraxen im Landkreis, so schätzt er, seien zumindest teilweise barrierefrei. Das deckt sich mit den Zahlen des Bundesarztregisters: Nur knapp über ein Drittel der Praxisstandorte in ganz Deutschland verfügen über wenigstens ein Merkmal der Barrierefreiheit, das gab die Kassenärztliche Bundesvereinigung im vergangenen Jahr bekannt. Doch um Menschen mit Behinderung aller Art den Gang zum Arzt zu erleichtern, müssen viele Hindernisse mitgedacht werden, erklärt Baumgärtner. So stören nicht nur schmale und nicht-elektrische Türen oder Treppenstufen. Dunkle Böden und eine fehlende Beleuchtung er-schweren den Zugang für Menschen mit Sehbehinderungen, die meist auf Kontraste an-gewiesen sind. Auch die Klingel wird zur Barriere, wenn sie etwa für Rollstuhlfahrer nicht erreichbar ist. "Und dafür fehlt einfach oft noch der Blick", sagt Baumgärtner. Weil er hauptsächlich in der Stadt Dachau tätig ist, fallen ihm viele Beispiele vor Ort ein. Da gebe es etwa eine Einrichtung, bei der der Aufzug im Zwischengeschoss endet. "Dann nehmen Rollstuhlfahrer den Aufzug und stehen immer noch vor Treppenstufen", klagt Baumgärtner.

Für die einzelnen Landkreisgemeinden geben die Behindertenbeauftragten der Gemeinden Auskunft. So heißt es etwa aus Altomünster und Bergkirchen, dass die meisten Praxen zumindest ebenerdig, mit Aufzug oder Rampe erreichbar sind. Katja Zupfer, die Weichser Behindertenbeauftragte, sagt: "Der Wille zur Barrierefreiheit ist bei Gehbehinderungen schon eher da." Bei Sehbehinderungen sei das hingegen noch nicht der Fall. Und auch in Karlsfeld, berichtet Anita Neuhaus, fehle noch der Blick für weitere Barrieren abseits von Treppenstufen. So sei das Gesundheitszentrum an der Münchner Straße zwar weitgehend barrierefrei zugänglich, die Bushaltestelle vor der Einrichtung hingegen nicht.

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Kommentar von Katja Gerland

Dass viele Ärzte nicht über Treppenstufen als Hürden hinausdenken, hat auch Liz Hebestreit bereits erfahren müssen. Wenn sie zum Telefon greift, um die Barrierefreiheit von Praxen zu erfragen, sei die Person am anderen Ende meist optimistisch gestimmt. "Und dann ist es doch fast immer das gleiche Spiel", sagt die 61-Jährige: Vor Ort stelle sich heraus, dass der Weg in und durch die Praxis voller Hindernisse ist. Oft bleibe ihr dann nichts anderes übrig, als zum Stock zu greifen, mit dem Hebestreit noch einige Schritte laufen kann. Ungefährlich ist das nicht, erzählt sie: "Auf unbekanntem Terrain habe ich immer Angst weg zu knicken." Für Hebestreit ist es unverständlich, dass sie immer noch regelmäßig mit diesen Herausforderungen konfrontiert ist - schließlich sind die Probleme ja längst bekannt. Wieso sind barrierefreie Arztpraxen also dennoch eine Seltenheit im Landkreis?

"Das ist diskriminierend, aber da können wir dann leider nichts machen"

Laut Baumgärtner ist die Antwort ein Puzzle aus verschiedenen Problemen. Viele Architekten etwa denken die Barrierefreiheit nicht mit. Die Folge: Es entstehen immer noch Gebäude, die nicht vollkommen barrierefrei sind. Fällt das nach einiger Zeit auf, sei die Motivation für Veränderungen selten da: "Im Nachhinein will niemand mehr investieren." Bei vielen Bauvorhaben weist er schon zu Beginn auf mögliche Barrieren hin. Das sei jedoch nur bei Baustellen im öffentlichen Bereich verpflichtend, erklärt Baumgärtner. Für Ärzte, die sich etwa in privaten Wohnhäusern ansiedeln, sei die Barrierefreiheit nur eine Sache der Freiwilligkeit. Sie könnten sich an Baumgärtner wenden, müssten es aber nicht, sagt der Behindertenbeauftragte. So kommt es, dass auch neu eröffnete Praxen nicht zwangsläufig barrierefrei sind. So auch in Petershausen, wo sich vor Kurzem ein Augenarzt im Obergeschoss eines Hauses ohne Aufzug niedergelassen hat. "Das ist diskriminierend, aber da können wir dann leider nichts machen", berichtet Baumgärtner.

Speziell im Landkreis Dachau zeigt sich noch ein weiteres Problem: Nicht alle Gemeinden haben einen Behindertenbeauftragten ernannt, der sich um die Anliegen vor Ort kümmert. In Markt Indersdorf und Hilgertshausen-Tandern gibt es keinen Ansprechpartner für Menschen mit Behinderung. Dabei sei laut Baumgärtner gerade die Hilfe vor Ort wichtig, um auf Missstände aufmerksam zu werden: "Ich selbst kenne mich nicht mit jeder kleinen Gasse aus, mit allen Arztpraxen sowieso nicht." Deshalb brauche es neben dem Kreisbehindertenbeauftragten stets Menschen mit Ortskenntnis, die sich um die Belange der Menschen kümmern. In Markt Indersdorf wisse man um die Notwendigkeit eines Behindertenbeauftragten, versichert Geschäftsleiter Klaus Mayershofer. Bis dato habe sich jedoch niemand Fachkundiges gefunden, der das Ehrenamt hätte übernehmen wollen. "Wir werden das aber in Bälde noch einmal thematisieren", so Mayershofer.

Für Baumgärtner geht das nicht schnell genug. Er möchte eine Liste erstellen, die über die Barrierefreiheit von Arztpraxen, Geschäften und anderen öffentlich zugänglichen Einrichtungen informiert. Vom Stadtrat sei dieses Vorhaben bereits genehmigt, nun gehe es an die Umsetzung. Ein erster Lichtblick für Liz Hebestreit und andere Menschen mit Behinderung im Landkreis. Liz Hebestreit sagt: "Wir müssen wissen, wo die Stolpersteine sind."

Betreiber von Arztpraxen, Geschäften und anderen Einrichtungen können sich per Mail an Hartmut Baumgärtner wenden, um die Barrierefreiheit überprüfen zu lassen. baumgaertner.hartmut@onlinehome.de

© SZ vom 17.11.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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