Helfer in der Türkei:"Ich kann nicht mehr weinen"

Helfer in der Türkei: Der Dachauer Friseur Aslan Züher hilft Erdbebenopfern in seiner Geburtsstadt Antakya.

Der Dachauer Friseur Aslan Züher hilft Erdbebenopfern in seiner Geburtsstadt Antakya.

(Foto: Aslan Züher, oh)

Der Dachauer Friseur Aslan Züher ist seit einer Woche in der vom Erdbeben zerstörten Stadt Antakya. Hier ist er aufgewachsen und hilft nun bei der Suche nach Verschütteten. Stadtrat Berkay Kengeroglu organisiert währenddessen aus Deutschland große Spendenaktionen.

Von Leonard Scharfenberg, Dachau

Die Häuser stehen schief. Wenn sie überhaupt noch stehen. Bei vielen ist nur das Erdgeschoss zusammengebrochen, und die Stockwerke darüber neigen sich gefährlich über die Straße. Aslan Züher läuft durch die Trümmerlandschaft und filmt. "Das sind die Straßen, wo ich aufgewachsen bin", spricht er in sein Handy. Seit Mittwoch vergangener Woche ist der Friseur aus Dachau in der türkischen Großstadt Antakya. Beziehungsweise dort, wo Antakya einmal stand. Etwa 70 Prozent der Stadt ist zerstört. Jeden Tag hilft Züher bei Such- und Bergungsarbeiten.

Als die Nachricht von dem Erdbeben kommt, ist für ihn sofort klar: Er wird hinfahren. Der 42-Jährige ist in Antakya geboren, hat dort Familie. Und er hat das letzte schwere Erdbeben 1999 miterlebt. Er wisse also, wie das ist, sagt er. Züher sammelt Spenden: Kleidung, Nahrung, Schlafsäcke. Ungefähr eineinhalb Tonnen hat er in kürzester Zeit zusammen. Am Dienstag - bereits einen Tag nach dem Beben - fliegt er nach Adana. Eine Fluggesellschaft erklärt sich bereit, die Spendenladung kostenlos zu transportieren. Es ist eine der ersten deutschen Hilfsladungen, die in der Provinz Hatay eintreffen.

Helfer in der Türkei: Ein Gewächshaus dient Aslan Züher und seinem Onkel als Schlafstatt.

Ein Gewächshaus dient Aslan Züher und seinem Onkel als Schlafstatt.

(Foto: Aslan Züher, oh)

Gemeinsam mit sieben anderen Helferinnen und Helfern schläft er seitdem in einem Gewächshaus. In der Mitte steht ein behelfsmäßiger Kamin. Neben den Matten ragen Salatköpfe aus der Erde. Es ist kalt. Wasser gibt es keines. Am Montag habe er das erste Mal wieder duschen können, erzählt Züher. Nach fünf Tagen. Auch das Essen sei knapp. Das sei aber nicht schlimm, er habe keinen Hunger, er spüre nichts mehr. "Ich kann auch nicht mehr weinen", sagt er. Wenn er jetzt Gefühle zulassen würde, würde das nicht funktionieren: Er müsste dann sofort aufhören zu arbeiten und wäre keine Hilfe mehr. Dafür ist er nicht hier her gekommen.

Jeden Tag geht Züher mit den anderen Helfern durch die Trümmerberge, ruft nach Überlebenden. "Kann uns jemand hören?" Dann müssen alle ganz still sein. Ein paar Mal hören sie etwas: schwache Stimmen aus dem Schutt. Selbst am Freitag hätten sie noch drei Menschen gefunden, die am Leben geblieben waren. Züher erzählt, es dauere meistens Stunden, sich zu den Menschen durchzukämpfen. Sie benutzen nur Schaufeln und Abbruchhammer, keine Bagger - zu gefährlich, zu unpräzise. Wenn man es dann schafft und ein Leben rettet: "Das ist ein megaschönes Gefühl", sagt er. Dafür lohne es sich.

Am Schlimmsten ist der Geruch

Meistens aber bleibt es still, wenn Züher und die anderen Suchenden in die Trümmer rufen. Er habe seit Mittwoch schon so viele Tote gesehen, erzählt er. Leichen am Straßenrand, behelfsmäßig zugedeckt mit Heizdecken. Der Anblick der oft stark gequetschten Körper sei nicht auszuhalten. Am Schlimmsten aber sei der Geruch. Wenn Züher davon erzählt, sagt er mehrere Male ein Wort: krass.

Immer wieder finden sie Tote und wissen nicht, was sie machen sollen - wer die Angehörigen sind. Auch Züher selbst hat bei dem Beben Familie verloren. Erst gestern habe er erfahren, dass seine Cousine nicht überlebt hat. Zeit zum Trauern hat er nicht. Es geht zurück auf die Suche.

Auch Berkay Kengeroglu hat keine Zeit, Abschied zu nehmen. Als der SPD-Stadtrat am Samstag die Nachricht geschickt bekommt, dass seine Verwandten tot geborgen wurden, steht er gerade auf dem Rewe-Parkplatz in Dachau und sammelt Spenden. Er liest die Nachricht erst spätabends. Bis zwei Uhr sortiert und verpackt er gemeinsam mit anderen Helferinnen und Helfern die Spenden im Gebetsraum der Moschee.

Helfer in der Türkei: Als Berkay Kengeroglu (Mitte) und den anderen Helferinnen und Helfern von Ditib am Samstag die Kartons ausgehen, spendet der Hagebaumarkt kurzfristig 150 weitere.

Als Berkay Kengeroglu (Mitte) und den anderen Helferinnen und Helfern von Ditib am Samstag die Kartons ausgehen, spendet der Hagebaumarkt kurzfristig 150 weitere.

(Foto: Berkay Kengeroglu, oh)

251 Umzugskartons sind es geworden. So viele, dass bereits nach wenigen Stunden der Spendenaktion die Verpackungen ausgehen. Gefüllt mit Babynahrung, Windeln, Hygieneartikeln und Schlafsäcken. Dazu kommen fast 6000 Euro an Geldspenden. Kengeroglu ist zufrieden. Der 22-Jährige hatte die Spendenaktion erst am Freitag geplant, mehrere Supermärkte angeschrieben, und die Sammlung auf Social Media und in der SZ Dachau angekündigt. "Das ist der Wahnsinn, wie kurzfristig das alles funktioniert hat", sagt er. Diese Hilfsbereitschaft gebe ihm viel Kraft.

Auch Kengeroglu hatte nachdem Erdbeben überlegt, in die Türkei zu fahren. Doch er hat sich entschieden, in Dachau zu bleiben und von hier aus zu helfen. "Ich glaube nicht, dass ich dort vor Ort eine große Hilfe gewesen wäre", sagt er. Von hier aus könne er mehr bewegen. Seit einer Woche steht das Handy des Jungpolitikers nicht mehr still. Er organisiert Spendenlieferungen, ist in Kontakt mit Angehörigen, Politikern, Presse und dem türkischen Generalkonsulat.

Das übernimmt die Lieferung der Spenden in die Türkei. Schon am Sonntagmittag kam ein LKW und brachte die Dachauer Spenden nach München. Von dort geht es für einige der Kisten mit dem Flugzeug weiter ins Erdbebengebiet, andere werden mit dem LKW in die Türkei gefahren.

Helfer in der Türkei: 251 Hilfspakete für die Türkei stapeln sich in der Moschee in Dachau.

251 Hilfspakete für die Türkei stapeln sich in der Moschee in Dachau.

(Foto: Berkay Kengeroglu, oh)

Kengeroglu überlegt, bald noch einmal eine Spendenaktion zu veranstalten. Er habe großen Zuspruch erhalten. Viele seien am Samstag extra für die Aktion einkaufen gegangen. Einige sprechen die Sammelnden auf Türkisch an, tauschen sich aus. Doch auch viele Dachauer ohne Bezug zur Türkei hätten am Samstag gespendet. Manche hätten auch das Gespräch gesucht und sich erkundigt, erzählt Kengeroglu. Als die Helferinnen und Helfer, viele davon selbst mit Familienmitgliedern in der Türkei, dann angefangen hätten zu erzählen, seien manchen der Spendenden die Tränen gekommen. "Das war wirklich, wirklich schön", sagt Kengeroglu.

Doch alle Beteiligten haben auch mindestens einmal erlebt, dass man sie beschimpft - oftmals rassistisch, erzählt er. "Dreckstürken" und "Dreckskanaken" habe man ihnen hinterhergerufen. Die Mehrheit sei das natürlich nicht, sagt er, Einzelfälle seien es aber leider auch nicht.

Wie es ihm geht? Gut, ja. Er zögert. Gut.

Doch Hauptsache, die gesammelten Waren kämen jetzt schnell in die Türkei. Zu den Menschen, an die Berkay Kengeroglu in jedem freien Moment denkt. "Ich wünschte, ich hätte dort nicht auf dem Parkplatz stehen müssen und Leute nach Windeln und Babynahrung fragen", sagt er. Er wünschte, es gäbe keinen Grund dafür.

In Antakya packt Aslan Züher seine Sachen. Er muss zurück nach Dachau in seinen Friseursalon in der Ludwig-Thoma-Straße. Wie es ihm geht? Gut, ja. Er zögert. Gut. Er sei ein wenig erschöpft, körperlich. Aber dankbar, dass er ein bisschen helfen konnte. "Das befriedigt meine Seele, muss ich ehrlich sagen."

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