Es ist Dienstagvormittag, der Angeklagte knetet die Hände, während das zehnjährige Mädchen im Zeugenstand von Richter Christian Calame befragt wird. Auf ihrem Schulweg soll der 55-Jährige aus dem Landkreis die damals Neunjährige am Handgelenk gepackt und versucht haben, sie mitzuzerren. Deswegen muss der Mann sich nun wegen Körperverletzung vor dem Amtsgericht Dachau verantworten.
Die Staatsanwältin wirft ihm vor, das Mädchen im Mai auf ihrem Schulweg aufgehalten und am Handgelenk gepackt zu haben, auf ihrer Haut blieb eine gerötete Stelle zurück. Zu den Vorwürfen erklärt der Angeklagte mit Halbglatze, korpulenter Statur und runder Brille nun: "Ich bin in dieser Angelegenheit unschuldig wie ein Lamm", außerdem sei er Schriftsteller und Intellektueller: "Die Anzahl meiner Feinde geht deshalb nicht gegen null." Gelegentlich benutze er zwar ein Stück des Schulwegs, um Einkaufen zu gehen, aber das Mädchen habe er - bis zum Zeitpunkt der Verhandlung - noch nie gesehen.
Das Gericht zweifelt an seiner Unschuld
Die Zehnjährige wird in den Sitzungssaal gerufen, Calame belehrt sie: "Ich bin darauf angewiesen, dass du mir die Wahrheit sagst." Das Mädchen sagt aus, dass sie mit ihrem Roller auf dem Weg in die Schule gewesen sei, als der Angeklagte sie wortlos am Handgelenk gepackt habe. Etwa fünf Sekunden lang habe er sie festgehalten. Dann habe sie sich aus dem Griff des Mannes herauswinden können. Den Trick habe sie von ihrer älteren Schwester gelernt, die Taekwondo mache. Danach sei sie weiter in die Schule gefahren, der Angeklagte sei in Richtung ihres Zuhauses gegangen, er wohne nur ein paar Häuser entfernt von ihr, sie habe ihn schon öfter gesehen. "War er es wirklich?", fragte Calame und deutet auf den Angeklagten. Sie bestätigt es mehrmals. In der Zwischenzeit habe sie auch mit anderen Kindern über den Angeklagten gesprochen, erzählt sie. "Freunde, die im Ort leben, haben auch Angst vor ihm."
In der Schule habe sie sich dann der Klassenlehrerin anvertraut. Vor Gericht sagt die 34-Jährige aus, dass ihre Schülerin - anders als sonst - an diesem Tag sehr verängstigt gewesen sei und ihr von dem Überfall erzählte. Daraufhin, so die Lehrerin, habe sie den Pullover der Neunjährigen zurückgezogen und die Rötung am rechten Handgelenk entdeckt. Als die Lehrerin nach dem Täter fragte, beschrieb ihn das Mädchen als älteren, korpulenten Mann mit runder Brille. Andere Schulkinder hätten gesagt, dass ihnen der Mann auch schon im Ort aufgefallen sei, oft sei er mit einer Discounter-Tüte in der Hand unterwegs, berichtet die Lehrerin. "Die Kinder haben erzählt, dass er sie schon spontan auf der Straße mit ,Du Arschloch!' beschimpft hat oder nackt durch den Ort gelaufen ist."
Vater fordert Angeklagten auf, mit Beschimpfungen vor dem Haus aufzuhören
Danach kontaktierte die Lehrerin, so erzählt sie vor Gericht, die Eltern eines Schülers, von denen sie gewusst habe, dass beide Polizisten sind. Als sie ihnen die Täterbeschreibung des Mädchens weitergegeben habe, hätten die Eltern gemeint, dass der Mann bereits polizeilich bekannt sei. Erst zwei Monate zuvor, im März 2022, sei bei der Polizei eine Mitteilung eingegangen, dass er vor einem Kindergarten gefragt habe, wie man am besten Kinder entführe. Rechtsanwalt Alexander Korres bestreitet, dass sein Mandant so etwas getan habe: "Selbst der größte Depp der Welt würde das nicht machen."
Anschließend sagt der Vater des Mädchen aus, wie ihm seine Tochter von der Tat berichtet hat. Zudem erzählt er, dass der Angeklagte immer wieder vor seinem Haus herumschleiche und drohe. Vor Gericht fordert er den Mann auf: "Bitte bleiben Sie nicht mehr vor unserem Haus stehen und beschimpfen uns nicht mit ,Diese Familie müsste man erwürgen!'"
Nach den Zeugenvernehmungen sieht die Staatsanwältin ihre Vorwürfe bestätigt, obwohl der Angeklagte diese weiter bestreitet: Die Zehnjährige sei vor Gericht als "glaubwürdige Zeugin" aufgetreten, die gegenüber dem Angeklagten keinen Belastungseifer gezeigt habe, sondern die Tat sachlich geschildert habe. Zwar habe das Mädchen die Tat offenbar gut weggesteckt, so die Staatsanwältin weiter, es hätte aber auch anders kommen können: etwa dass sich das Mädchen nicht mehr traut, rauszugehen oder allein in die Schule zu gehen. Als Strafe fordert sie 70 Tagessätze à 15 Euro, also 1050 Euro, für den Angeklagten. Er ist seit 14 Jahren auf Hilfen des Jobcenters angewiesen, davor hat er als Texter und Schriftsteller gearbeitet, bis ihn der Tod seiner Mutter aus der Bahn gerissen hat.
Richter schließt aus, dass die Zehnjährige den Täter verwechselt habe
Rechtsanwalt Korres plädiert auf Freispruch, er zweifelt an den Aussagen des Mädchens. Er wisse, wie beeinflussbar Kinder seien, er habe selbst zwei Töchter "und die erzählen viel Schmarrn, wenn der Tag lang ist". Falls das Gericht seinen Mandanten nicht freispreche, fordert er, es bei einer Geldstrafe von 450 Euro zu belassen.
Richter Calame zeigt sich überzeugt davon, dass die Zehnjährige die Wahrheit gesagt. In seiner Urteilsbegründung erklärt er, dass sie die Tat glaubhaft geschildert und nicht übertrieben habe. Außerdem habe sie die Tat gleich dreimal erzählt und sich dabei nicht widersprochen: einmal bei der Lehrerin, dann bei der Polizei und "heute sachlich und nüchtern" vor Gericht. Der Richter schließt aus, dass sie den Täter verwechselt hat. Schließlich habe sie ihn als beleibteren, älteren Herren mit runder Brille beschrieben - was auf den Angeklagten zutreffe -, außerdem habe sie ihn zuvor schon öfter in der Nachbarschaft gesehen.
Das Urteil: Der Angeklagte muss eine Geldstrafe von 50 Tagessätzen zahlen, insgesamt 750 Euro, außerdem trägt er die Kosten des Verfahrens. Der Richter betont, dass die Tat für das Kind massiv und eine psychische Belastung sei, die dazu führen könnte, dass es Ängste entwickele. Der Angeklagte will noch überlegen, ob er gegen das Urteil Berufung einlegen soll.