Schwarz maskierte Männer stürmen das kahle weiße Zimmer, allesamt schwer bewaffnet: Kämpfer der Taliban. Sie durchsuchen den Raum und halten den drei Männern, die sich darin aufhalten, Waffen an den Kopf. Die drei nehmen die Hände hoch, um zu signalisieren, dass sie sich ergeben. Eine halbe Minute später werden sie aus dem Haus geführt. Dann ist keiner der Männer mehr zu sehen.
Die Videoaufnahme macht begreifbar, dass es hier um Leben und Tod geht. Sadaf Azizi (alle Namen von der Redaktion geändert) sitzt im Wohnzimmer ihrer Wohnung in Dachau, während sie die Aufnahme vorspielt. Sie kennt die drei Männer, die abgeführt wurden. Sie gehören zu ihrer Familie: "Das sind zwei meiner Schwager und deren Vater", erzählt Azizi. Sie ist selbst vor knapp 22 Jahren nach Deutschland geflohen - während des damals schwelenden Bürgerkriegs in Afghanistan. 2001 kam die damals 26-jährige nach Dachau, seit 2012 hat Azizi die deutsche Staatsbürgerschaft. Ein Leben in Sicherheit und Frieden in Deutschland, das wünscht sie sich auch für ihre Angehörigen in Afghanistan. Denn dort müssen sie in ständiger Angst leben.
"Fünf Drohbriefe wurden ihm in den letzten Monaten geschickt."
Aaris Rahemi, ein Schwager Azizis, war bis zur Machtübernahme der Taliban im August 2021 bei der afghanischen Polizei in der Hauptstadt Kabul. Er arbeitete dort zwölf Jahre als Minen-Entschärfer im Militär und als Polizeioffizier; ausgebildet wurde er von den deutschen und amerikanischen Streitkräften. Wegen seiner Tätigkeit wird er von den Taliban offiziell gesucht. "Fünf Drohbriefe wurden ihm in den letzten Monaten geschickt", berichtet Azizi. Der erste Anfang Dezember, der letzte Ende Februar. Drei der fünf Briefe haben sich Sadaf Azizi und ihr Mann Faim von Rahemi zukommen und hier übersetzen lassen. Sie zeigen die Übersetzungen der Briefe. Darin wird Aaris Rahemi vorgeworfen, in seiner Zeit bei der afghanischen Polizei "kriminelle Verbrechen als Minen-Entschärfer verübt zu haben" - so steht es schwarz auf weiß geschrieben. Vermutlich ist das auch der Grund, weswegen die drei Familienangehörigen von den Taliban abgeführt wurden: als Geiseln, um an Aaris Rahemi zu kommen. Vier Polizeikollegen von Rahemi haben ebenfalls diese Briefe erhalten, drei davon sind umgebracht worden, einer konnte in den Iran fliehen.
Rahemi steht mit den Familien der Kollegen weiterhin im Austausch, erst dadurch erfuhr er davon. Seit dem Eingang des ersten Briefes ist er mit Frau und Kindern bei den Schwiegereltern und bei seiner Schwester in Masar-e Scharif im Wechsel, um sich nicht ständig am gleichen Ort aufzuhalten. Vor der Flucht in die im Norden Afghanistans liegende Stadt war Rahemi bei seinen Eltern in Balkh untergekommen. Dort fand auch die Hausdurchsuchung und die Festnahme statt. Normalerweise wären Azizis Schwager und seine Familie vor Ort gewesen. "Aber sie waren zum Glück zu dem Zeitpunkt auf Besuch bei seinen Schwiegereltern", schildert Azizi. Nachdem sie davon erfahren hatten, blieben sie bei ihnen. Wichtige Dokumente konnten die Taliban nicht entwenden, da Rahemi vorsorglich viele Formulare auf einen USB-Stick digitalisiert und die originalen Papiere in einer Vitrine untergebracht und vergraben hatte. Darunter Zeugnisse, Ausbildungszertifikate, seine Polizeikarte und seine Geburtsurkunde, die sogenannte Tazkira. Nur er und seine älteste Tochter besitzen eine solche Urkunde. Für seine Frau und die drei jüngeren Töchter hatte er sie auch beantragt, bis heute haben sie diese nicht erhalten. Einen Reisepass, der zur Ausreise ins pakistanische Islamabad notwendig wäre, können sie nicht anfordern, da Aaris Rahemi und seine Familie das bei der Behörde vor Ort machen müssten - die Wahrscheinlichkeit, dort von den Taliban gefasst zu werden, wäre enorm.
"Ich habe Angst, dass sie von den Taliban verhaftet werden und dass sie zwangsverheiratet wird."
Sadaf Azizi war fünf Jahre alt, als sie nach Dachau kam. Hier angekommen wurde sie mit ihren sechs Geschwistern, ihren Eltern und weiteren Angehörigen der Familie in einer Asylunterkunft untergebracht. "Wir waren sieben Jahre dort, es war eine harte Zeit", sagt Azizi. Auf der Mittelschule Dachau Süd machte sie 2012 ihre Mittlere Reife, begann dann bei der Apotheke Lessing ihre Ausbildung und arbeitet seitdem dort als pharmazeutisch-kaufmännische Angestellte. Ihre Geschwister leben auch in Deutschland, haben seit 2016 alle die deutsche Staatsbürgerschaft.
Aaris Rahemi und seine Frau sind Mitte 30, sie haben vier Töchter, die Jüngste ist acht. Die Älteste ist 16 Jahre alt, sie wolle Gynäkologie studieren, so Azizi, da es in Afghanistan nicht viele Frauenärzte gebe und sich viele den Besuch dort auch nicht leisten könnten. Früh- oder Totgeburten seien in Afghanistan daher häufig. Etwas, das die 16-jährige verhindern wolle. Ob sie diese Arbeit je machen werden kann, ist aktuell mehr als fraglich. Seit August können die vier Töchter nicht mehr zu Schule gehen. "Ich habe Angst, dass sie von den Taliban verhaftet werden und dass sie zwangsverheiratet wird", sagt Azizi. Im Moment hat sie wenig Anhaltspunkte, wie die Lage vor Ort ist. Zu Rahemi hat Azizi keinen direkten Kontakt, er hat, aus Angst nachverfolgt zu werden, kein eigenes Telefon. Daher telefoniert sie jedes Wochenende einmal mit ihren Schwiegereltern.
Sadaf Azizi kämpft weiter
Schon Ende August 2021 versuchte Aaris Rahemi mit dem Auswärtigen Amt Kontakt aufzunehmen - vergebens. Er wartet seitdem auf eine Antwort. Anfang Januar versuchte er es erneut - mit dem selben Ergebnis. "Deshalb hat er alle seine Angehörigen in Deutschland darum gebeten zu versuchen, mit den Behörden hier vor Ort den Kontakt herzustellen", erklärt Azizi. Ende Januar hat sie dem Auswärtigen Amt geschrieben, bisher auch ohne Rückmeldung. Von den Dachauer Bundestagsabgeordneten Beate Walter-Rosenheimer (Grüne), Katrin Staffler (CSU) und Michael Schrodi (SPD) bekam sie auch nur die Auskunft, dass sie sich an das Auswärtige Amt wenden solle und dass sie selbst nichts unternehmen könnten.
Das Problem ist das folgende: Bis August 2021 existierte eine Liste des Auswärtigen Amts, auf der Gefährdete, wie Aaris Rahemi einer ist, registriert wurden. Ihnen soll die Ausreise ermöglicht werden. Seit dem Abzug der Bundeswehr in Afghanistan gibt es die Liste weiterhin - die afghanische Staatsanwältin Nilofar Mukdad, die im November mit einem Teil ihrer Familie nach Dachau fliehen konnte, stand auch darauf. Das Dokument wird aber seit dem Abzug der Bundeswehr nicht mehr ergänzt, Rahemi kann also nicht mehr auf sie gelangen. Außerdem war er keine direkte Ortskraft der Deutschen oder Amerikaner, ein Fakt, der ihm auch einen Weg außer Landes ebnen könnte. "Ich fühle mich hilflos und muss oft weinen", sagt Azizi. "Wenn es nach mir ginge, würde ich gern sofort hinfahren und sie mitnehmen. Aber mir sind die Hände gebunden."
Sadaf Azizi kämpft weiter. Unermüdlich versucht sie, die Behörden zu kontaktieren und über private Netzwerke alle Möglichkeiten auszuloten. Aktuell steht sie im Austausch mit der Beratungsagentur Communications Public Affairs, die auch in Kontakt mit dem zuständigen Bundesministerium stehen. Sie hofft auf deren Hilfe - und auf weitere von Behörden und Organisationen, um ihre Familie aus der Gefahr retten zu können.