Dachau:"Wieder erleben wir einen solchen Hass gegen Juden"

Dachau: Der 93-jährige Holocaust-Überlebende Abba Naor beim diesjährigen Gedenken an die Opfer des Todesmarsches in Dachau.

Der 93-jährige Holocaust-Überlebende Abba Naor beim diesjährigen Gedenken an die Opfer des Todesmarsches in Dachau.

(Foto: Toni Heigl)

Die KZ-Gedenkstätte Dachau bietet erstmals ein digitales Zeitzeugengespräch mit dem Shoah-Überlebenden Abba Naor an. Der 93-Jährige erzählt seine Geschichte und spricht auch über den gegenwärtigen Antisemitismus. Er vermisst eine konsequente Reaktion der Politik auf die Übergriffe.

Von Eva Waltl, Dachau

Der 93-jährige Abba Naor, Holocaust-Überlebender und Vizepräsident des Internationalen Dachau-Komitees, sitzt in einem leeren Konferenzzimmer der KZ-Gedenkstätte Dachau. Er hat gerade zwei Stunden lang in eine vor ihm aufgebaute Kamera gesprochen. Jetzt schweigt er. 80 Zuhörer und Zuhörerinnen haben das erste digitale Zeitzeugengespräch der Gedenkstätte zuhause verfolgt. Auch sie schweigen unter dem Eindruck von Naors Geschichte einen Moment lang - Biografien sind der Schlüssel zu einem nicht nur kognitiven Verständnis und zur Empathie. Das wissen Zeitzeugen wie Abba Naor. Deshalb wohl hat er auch seine anfängliche Skepsis gegenüber digitalen Auftritten aufgegeben. Abba Naor mag den unmittelbaren Kontakt zu Jugendlichen, zigtausende Schüler und Schülerinnen hat er seine Geschichte schon erzählt. Die Geschichte der Überlebenden ist zu wichtig. Gerade auch jetzt, da im Land die Zahl der antisemitischen Übergriffe und Gewalttaten ansteigt. 2351 antisemitische Straftaten haben die Behörden im Jahr 2020 in Deutschland registriert, rund 16 Prozent mehr als im Vorjahr. Ein neuer Höchststand seit Beginn der Erfassung antisemitischer Straftaten 2001.

Dann die Frage aus dem Publikum, die den Bogen von der Vergangenheit zur Gegenwart spannt: Was Abba Naor sich von der Politik wünsche, um den aufflammenden Rechtsextremismus und Antisemitismus zu bekämpfen. Ja, was wünscht sich einer mit dieser Geschichte von der deutschen Politik? Es ist das Jahr 1941. Abba Naor, 13 Jahre ist er alt, wird mit seiner Familie in das Ghetto im litauischen Kaunas getrieben. 30 000 Jüdinnen und Juden leben zu dieser Zeit in Kaunas. Sein älterer Bruder Chaim wird erschossen, weil er aus der Stadt Brot für die Familie besorgen wollte. "Nach der Umwandlung des Ghettos in ein Konzentrationslager konnte die Einheit der österreichischen Gestapo nur arbeitsfähige Menschen gebrauchen", erzählt Naor. Die anderen wurden ermordet. Das war 1943. Schon vorher fielen Tausende Menschen mehreren Mordaktionen zum Opfer.

"Ich kann nicht verstehen, dass wir wieder einen solchen Hass gegen Juden in Deutschland erleben"

Der 93-Jährige blendet ein sepiafarbenes Foto ein: eine Schulklasse. Die Kinder, vielleicht sieben oder acht Jahre alt, tragen gebastelte Krönchen. Es ist Chanukkah. Bleierne Stille breitet sich im digitalen Raum aus. Auch Naor atmet einige Male tief ein und aus, bevor er weiterspricht. Das Bild zeigt etwa 45 Kinder, ihre Blicke sind meist ernst. Ein paar Mädchen in der vorderen Reihe lächeln. "Wir lebten von nun an in einem KZ. Alte, Kranke und Kinder hatten dort nichts mehr zu suchen." Abba Naor versteckte seinen kleinen Bruder Berale im Ofenschacht der Hütte, wenn das Ghetto immer wieder durchkämmt wurde. Er verstand sofort, dass er da rein und ruhig bleiben müsse. Naor macht eine kurze Pause. "Der Großteil der Kinder hat es nicht geschafft, sich rechtzeitig zu verstecken", fährt er fort. Am 26. September 1941 wurden im Ghetto zwischen 1200 und 1600 Alte, Frauen und Kinder ermordet. Allein 1941 wurden 10 000 Ghettobewohner erschossen oder zu Tode geprügelt.

Im März 1944 wurden etwa 1000 Kinder in die Vernichtungslager nach Auschwitz und Majdanek deportiert. "Kinder haben doch ein Recht auf Leben. Sie sind doch unschuldig." Naor schweigt, Trauer umschattet seinen Blick. Dann zeigt er drei kleine Fotografien seiner Urenkel. Die Bilder sind in Farbe, die Kinder kaum älter als die zuvor gezeigten. "Ich weiß, es ist nicht einfach, zuzuhören. Aber es ist nur so wenig, was ich euch erzähle."

Befreiungsfeier 2017

Die Historikerin Gabriele Hammermann leitet die KZ-Gedenkstätte.

(Foto: Niels P. Jørgensen)

Im Juli 1944 lösen die Deutschen das Ghetto auf, zerstören es, weil die Rote Armee naht. Naor, seine Eltern und Berale werden ins Konzentrationslager Stutthof bei Danzig deportiert. Die Zurückgebliebenen, die sich versteckt haben, werden aufgespürt und ermordet, ungefähr 90 Menschen überleben. "In Stutthof sagte man uns, es gebe ein Männer- und ein Frauenlager und für die Kinder werde gesorgt." Naor und sein Vater verabschieden sich von der Mutter und Berale. "Wir wussten, dieser Abschied ist der letzte." Seine Mutter und sein jüngerer Bruder werden nach Auschwitz-Birkenau deportiert und sofort nach ihrer Ankunft vergast. Naor und sein Vater kommen in die Außenlager des Konzentrationslagers Dachau und werden getrennt. Abba Naor meldet sich freiwillig für Kaufering I, er hofft, dort den Vater wiederzufinden. "Man nannte es Arbeitslager, aber es war ein Vernichtungslager." Vernichtung durch Arbeit habe dort "wunderbar funktioniert", ergänzt er. Die Sterberate war enorm. Ungefähr die Hälfte der 22 000 jüdischen Zwangsarbeiter in den Außenlagern überlebten nicht. Am 25. April 1945 kommt Naor ins Dachauer Stammlager und wird auf den Todesmarsch Richtung Süden getrieben. Amerikanische Soldaten befreien nach Tagen die Häftlinge, die noch am Leben sind. Abba Naor ist 17 Jahre alt.

"Warum wollten wir trotz des Grauens nicht sterben?" Naor stellt mehrere Fragen, auf die im digitalen Raum mit Schweigen geantwortet wird. "Weil das Leben eine feine Sache ist", beantwortet er selbst seine rhetorische Frage. Dann, als lösten sich die Zuhörer langsam aus ihrer Erstarrung, melden sich doch noch einige zu Wort, sprechen ihm vor allem ihren Dank aus, dass er das Erlebte mit ihnen geteilt habe. Was wünscht sich nun ein Holocaust-überlebender wie Abba Naor von der Politik? Der 93-Jährige formuliert seine Antwort vorsichtig, fast schon diplomatisch, aber es ist klar, dass ihm die Reaktion der Politik nicht zufriedenstellt. Die Politiker, sagt er, reagierten doch "sehr liberal" auf öffentliche Demonstrationen gegen Juden in Deutschland. Die Politik lasse Tausende Menschen mit antisemitischen Parolen durch die Straßen ziehen. "Es wird akzeptiert oder übersehen." Er spricht die judenfeindlichen Übergriffe auf den antiisraelischen Demonstrationen anlässlich der Raketenangriffe der terroristischen Hamas aus Gaza auf Israel an. Sprechchöre vor der Synagoge in Gelsenkirchen und andere Angriffe auf jüdische Gebetshäuser, Übergriffe auf deutsche Jüdinnen und Juden - kurz nach dem Zeitzeugengespräch wird am Samstagmorgen ein Brandanschlag auf die Synagoge in Ulm verübt.

Bericht zur Lage der Demokratie

Der Bericht der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (Rias) für Bayern 2020: "Die Zahl antisemitischer Vorfälle auf Versammlungen stieg im Vergleich zum Vorjahr von 14 auf 98. 84 dieser dokumentierten antisemitischen Versammlungen standen im Kontext der Pandemie. Die häufigste Form des Antisemitismus war auch dort mit 53 Fällen der Post-Schoah-Antisemitismus. Hierbei stachen insbesondere schoah-verharmlosende Vorfälle, etwa in Form von angehefteten "gelben Sternen", hervor. Auf den 14 Versammlungen, die sich nicht auf die Pandemie bezogen, wurde Post-Schoah-Antisemitismus ebenso oft verbreitet wie israelbezogener Antisemitismus (jeweils acht Fälle). 139 der bekannt gewordenen 239 Fälle (58 Prozent) konnten eindeutig einem bestimmten politischen Hintergrund zugeordnet werden. Mit 78 registrierten Fällen stammte ein Drittel aller Fälle aus dem verschwörungsideologischen Milieu und ist auf die Coronaproteste zurückzuführen. Diese Kategorie machte 2019 mit zehn Vorfällen nur gut fünf Prozent aus. Während 2019 46 Fälle mit einem rechtsextremen/rechtspopulistischen Hintergrund bekannt geworden sind (25 Prozent), waren es 2020 42 Fälle (18 Prozent). Anders als 2019 standen antisemitische Vorfälle mit einem solchem Hintergrund nicht mehr an erster, sondern an zweiter Stelle hinter den Vorfällen mit einem verschwörungsideologischen Hintergrund (33 Prozent). Am dritthäufigsten (zwölf Fälle oder fünf Prozent) gingen antisemitische Vorfälle von antiisraelischem Aktivismus aus. In die Kategorie verletzendes Verhalten fielen beispielsweise 34 Fälle im Rahmen einer Auseinandersetzung von Angesicht zu Angesicht, 43 Fälle von öffentlich präsentierten antisemitischen Botschaften und 98 Fälle im Rahmen von Versammlungen. In letzterer Kategorie war eine deutliche Zunahme zu verzeichnen: Gegenüber 14 Fällen 2019 registrierte RIAS Bayern sieben Mal so häufig antisemitische Äußerungen auf Versammlungen. Solche Inhalte waren 2020 im öffentlichen Raum also weitaus stärker präsent als im Vorjahr. 2020 ereigneten sich aber auch antisemitische Vorfälle an Orten des persönlichen Alltags: Am Arbeitsplatz, in Bildungseinrichtungen oder im Wohnumfeld sind RIAS Bayern 16 Fälle bekannt geworden. Antisemitische Äußerungen oder Handlungen richteten sich direkt gegen mindestens 116 Personen. Davon waren mindestens 30 jüdisch oder israelisch, 50 wurden als Jüdinnen und Juden oder Israelis adressiert, unabhängig davon, ob diese Zuschreibung zutraf. Antisemitische Vorfälle richteten sich in 23 Fällen gegen Institutionen, in 14 Fällen waren diese jüdisch oder israelisch." sz

In den Tagen der Eskalation in Nahost positioniert sich im Landkreis Landrat Stefan Löwl (CSU), er lässt die israelische Staatsfahne vor dem Gebäude seiner Behörde hissen. Das Plenum des Runden Tisches gegen Rassismus in Dachau verabschiedet einstimmig eine Resolution gegen die antisemitischen Ausschreitungen. Der Vereinigung unter der Schirmherrschaft des Oberbürgermeisters Florian Hartmann (SPD) gehören 40 Organisationen, Kirchen, Vereine und Verbände, auch die KZ-Gedenkstätte Dachau an, sowie 60 einzelne Mitglieder an.

Der geschäftsführende Vizepräsident des Auschwitz-Komitees, Christoph Heubner, sagte in Berlin: "Mit jedem Anschlag auf jüdische Gebäude und jüdisches Leben wachse die Angst der Überlebenden des Holocaust, dass die Schlacht gegen den aktuellen Antisemitismus längst verloren sei." Die Überlebenden seien in Sorge, dass ihre Kinder und Enkelkinder in einer Welt leben müssten, in der ein neues Auschwitz möglich sei. "Ich kann nicht verstehen, dass wir wieder einen solchen Hass gegen Juden in Deutschland erleben", sagt Naor. Die Corona-Pandemie verschärfe das Problem, auf den Demonstrationen gegen die Hygiene-Maßnahmen würden "Juden als Auslöser von all dem" geschmäht - eine Neuauflage der alten Verschwörungserzählung von "den Juden", die angeblich nach der Weltherrschaft strebten. Judenhass gefährde, sagt Naor, die Demokratie. Umfragen zufolge sind 20 bis 30 Prozent der Deutschen demokratieskeptisch eingestellt, bis hin zu expliziter Demokratiefeindlichkeit.

Deshalb ist die Erinnerung an den Holocaust so wichtig. Auch in Zeiten der Pandemie. Das digitale Format sei "von großer Bedeutung", betont Gabriele Hammermann, Leiterin der KZ-Gedenkstätte, die den Abend moderiert. Damit gelingt es der Gedenkstätte während der Corona-Krise ein weiteres Puzzleteil der Erinnerungsarbeit in den digitalen Raum zu verlegen, finden Live-Rundgänge, Seminare und jüngst die Gedenkfeierlichkeiten zur Befreiung des Konzentrationslagers am 29. April 1945 bereits in digitaler Form statt. Mit dem ersten digitalen Zeitzeugengespräch verdichtet sich nun das Mosaik der Erinnerung. Naors Auftritt wird von der Gedenkstätte in Form eines Livestreams auf ihrem Youtube-Kanal geteilt. Weitere digitale Zeitzeugengespräche sollen folgen, wie es heißt.

"Was ich erzählen werde, wird manchmal langweilig sein, manchmal wird es nicht leicht sein zuzuhören. Aber ich habe keine andere Geschichte." Das hat Naor zu Beginn gesagt. Er wird bald 94 Jahre alt und kämpft unentwegt gegen das Vergessen. "Ich mache das schon etwa 20 Jahre lang und bereue keinen Tag davon." Er tut dies für die Jugend, die es verdient habe, die Vergangenheit zu kennen. "Es ist für mich auch eine persönliche Sache. Solange ich über meine Familie spreche, ist sie lebendig. Niemand hat sie gesehen und niemand spricht über sie. Aber auch sie haben es verdient, nicht vergessen zu werden." Er zeigt eine Karte mit bunten Feldern in die Kamera: Sein Terminplan für die kommenden Wochen. "Ich spreche dieses Mal nur in 23 Schulen."

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