Christkindlanblasen:Friedensmusik

Warum Aloys Fleischmann vor 110 Jahren das Christkindlanblasen in der Stadt begründete und sich darüber freute, dass sich die Dachauer nach dem Zweiten Weltkrieg an diese Tradition erinnerten. Zwei Augenzeugen erzählen davon: Elisabeth Glück und Siegfried Oswald

Von Anca Miruna Dunga, Dachau

Was muss es für ein einzigartiger Moment gewesen sein, als mitten durch die kalte Luft an Heiligabend vom Kirchturm her ungewohnte Klänge über Dachaus Dächer hinwegwehten? Hermann Stockmann wird die Szenerie wohl so nachhaltig beeindruckt haben, dass er mit Pinsel und kräftigen Farben den Beginn dieser langjährigen Tradition auf Leinwand fest bannte. Sein Gemälde von 1928 ist das älteste, auffindbare Abbild des Christkindlanblasens. Bei Stockmann tanzen gar die Engel hocherfreut um die Turmspitze, während die Bläser lässig an der Mauer angelehnt ihre Lieder herunter posaunen.

Der erste Zeitungsbericht zur Turmmusik in Dachau erschien 1920. Bereits 1906 finden sich beim Dachauer Komponisten und Chorleiter Aloys Georg Fleischmann unter der Rubrik "Turmmusik in der Christnacht" Bearbeitungen für ein vierstimmiges Blechbläserensemble. In seiner mehr als 600 Werke umfassenden Sammlung sind Arrangements von "In dulci Jubilo" - einem Weihnachtslied aus dem 14. Jahrhundert - oder "Es ist ein Ros' entsprungen" und "Stille Nacht, heilige Nacht" für zwei Trompeten, einer Tenor- und einer Bassposaune. Anfang des Jahrhunderts stimmten seine neu bearbeiteten Lieder die Menschen in Dachaus Altstadt auf Weihnachten ein. Somit würde heuer das Christkindlanblasen zum 110. Mal stattfinden. Allerdings mussten die Dachauer immer wieder auf ihre geliebte Tradition verzichten. Bedingt durch die beiden Weltkriege oder einfach, weil sie zwischenzeitlich aus der Mode gekommen war.

Christkindlanblasen: Zweimal tritt die Blaskapelle Eisenhofen in Dachau zum Christkindlanblasen an.

Zweimal tritt die Blaskapelle Eisenhofen in Dachau zum Christkindlanblasen an.

(Foto: Toni Heigl)

Doch der Reihe nach: Aloys Gregor Fleischmann, geboren 1880 in Dachau als Sohn eines Schuhmachermeisters, initiierte das Konzert auf dem Kirchturm noch vor seiner Auswanderung nach Irland 1906. "Viel war ihm daran gelegen, alte Traditionen weihnachtlicher Feste wieder zu beleben und zu bewahren", erzählt Musikwissenschaftler Andreas Pernpeintner, der über Fleischmann seine Dissertation verfasst hat. Weit über die Stadtgrenzen hinaus bekannt wurde Fleischmann mit seinem Weihnachtsspiel "Die Nacht der Wunder" - ein knapp einstündiges Mysterienspiel für etwa 100 Schauspieler, Chorsänger und Instrumentalisten.

26 Jahre höchster Produktivität verbrachte Aloys Fleischmann in seiner Heimatstadt, bevor er gemeinsam mit seiner Frau Tilly nach Cork, Irland, auswanderte. Doch mit dem Herzen blieb er immer in Deutschland. Als Deutscher während des Ersten Weltkriegs von den Briten zum zivilen Kriegsgefangenen erklärt, verbrachte er etliche Jahre in Internierungslagern, wurde nach Kriegsende nach Deutschland abgeschoben und zwangsrepatriiert. Getrennt von Tilly und seinem Sohn zog er gezwungenermaßen wieder bei seiner verarmten Mutter im elterlichen Haus in der Wieningerstraße 22 in der Altstadt ein. War das weihnachtliche Turmmusizieren über die Kriegsjahre eingeschlafen, so belebte er es erneut, zu Ehren der Dachauer und seiner Mutter.

Christkindl Anblasen

Einer der ersten Bläser war August Auer auf seinem Horn.

(Foto: Niels P. Joergensen)

Kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges muss es wohl zum letzten Mal zum weihnachtlichen Anblasen vom Kirchturm gekommen sein. Nachdem selbst die Kirchenglocken abgebaut und zu Kriegszwecken eingeschmolzen waren, bestieg kein Bläser mehr den Turm an Weihnachten. Gleich nach dem Krieg fanden sich jedoch die Musiker wieder und nahmen diese Tradition erneut auf. Beim fahlen Licht der Petroleumlampe verkündeten sie die frohe Botschaft um die Geburt Jesu vom Schloss herab.

Die Dachauerin Elisabeth Glück, geborene Auer, erinnert sich noch gut an die damalige Zeit vor Weihnachten, als sie das Horn und die Trompete ihres Vaters August Auer blitzblank polieren musste für das Christkindanblasen. In einem emotionalen Brief an Auer, der als Bläser vor dem Zweiten Krieg noch den Turm bestiegen hatte, schrieb Fleischmann 1949 voller Melancholie: "Herr Chordirektor Ritthaler nannte Sie als einen der Vertreter der vier tönenden Evangelisten, die die Weihnachtsbotschaft am Heiligen Abend weithin schallend verkünden. Ich hielt es nicht für denkbar, dass trotz der bis auf den Grund erschütternden und gestörten Heimat, durch all die Schrecknisse der Zeit eine kulturelle Aktivität dieser Art, und sei diese noch so bescheiden, sich in unsere Tage hinübergerettet hat." Immer wieder finden sich Zeilen in Briefen von Fleischmann, in denen er seine unerschütterliche Überzeugung kundtut, dass Musik die Menschheit ein Stückchen besser machen könne.

Historisches Horn

Nach dem Zweiten Weltkrieg etablierte sich das Christkindlanblasen wieder.

(Foto: Niels P. Joergensen)

Bis in die fünfziger Jahre hinein überlebte das Christkindlanblasen unter der Schirmherrschaft der Kirche. Dann brachen neue Zeiten an: Im Zuge des Zweiten Vatikanischen Konzils zwischen 1962 und 1965 folgten so manche Neuerungen, die auch Dachau erreichten. Vorkriegstraditionen passten nicht mehr recht in das neue Zeitalter, galten als verstaubt. Das Christkindlanblasen geriet in Vergessenheit. Anfang der Siebziger Jahre muss es gewesen sein, als der Lachner Vit, der stadtbekannte Wirt des Bräustüberls, Bläser der Knabenkapelle ansprach, ob man nicht wie früher an Weihnachten das Christkindl anblasen könnte. Siegfried Oswald erinnert sich noch gut daran. Damals war er dabei. Und so kam es, dass sie die Tradition wieder aufnahmen und jedes Jahr bei Wind und Wetter am Heiligen Abend auf dem Schlossplatz Weihnachtslieder über Dachau ertönen ließen. "Anschließend gab es Weißwürst' und eine Brotzeit vom Lachner Vit. Dann ging man heim zur Familie und zur Bescherung."

Vor allem Oswald und seiner Hartnäckigkeit ist es zu verdanken, dass von 1987 an die Blaskapelle Eisenhofen bis heute ununterbrochen in der Altstadt Weihnachten einläutet. Es sei gar nicht so einfach, junge Menschen zu finden, die am 24. Dezember bereit sind, in der Kälte Weihnachtslieder zu spielen. "Wir sind ganz froh um unsere Eisenhofener", sagt Siegfried Oswald.

Eines ist gewiss: Das Christkindanblasen gehört zu Dachau wie Weihnachten und Lametta. Und so verweilt man auch dieses Jahr an Heiligabend oben am Schlossplatz und auch am Rathausplatz in der Altstadt, lauscht den besinnlichen Tönen der Bläser und hofft - ganz im Sinne des Initiators Aloys Fleischmann - dass die Musik ein wenig Frieden über die Welt zu bringen vermag.

Christkindlanblasen: Eine Postkarte von Hermann Stockmann.

Eine Postkarte von Hermann Stockmann.

(Foto: Familie Fleischmann/oh)

Wenn Heiligabend Oberbürgermeister Florian Hartmann (SPD), einer alten Tradition folgend, alljährlich zum Christkindlanblasen einlädt, kommen Jung und Alt am Samstag, 24. Dezember, gern zusammen, um sich auf Weihnachten einstimmen zu lassen. Um 15 Uhr am Schlossplatz in Dachau und um 15.30 Uhr vor dem Rathaus spielt die Eisenhofer Stadtkapelle seit jeher bekannte Weihnachtslieder.

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