Dachau und die Schoah:Das Leben braucht Erinnerung

Dachau und die Schoah: An der KZ-Gedenkstätte Dachau wird an die Befreiung des Konzentrationslagers vor 77 Jahren erinnert.

An der KZ-Gedenkstätte Dachau wird an die Befreiung des Konzentrationslagers vor 77 Jahren erinnert.

(Foto: Toni Heigl)

Eine Gedenkveranstaltung in der Israelitischen Kultusgemeinde in München stellt die Zukunft der Erinnerung in den Mittelpunkt - auch die KZ-Gedenkstätte Dachau sucht eine Antwort darauf, wie ohne Zeitzeugen Geschichte vermittelbar ist.

Von Helmut Zeller, Dachau/München

Nichts ist vorbei. Das ist hier, in der fast voll besetzten Synagoge "Ohel Jakob" am Jakobsplatz in München, besonders spürbar. Es ist da und wird immerfort sein. Es spiegelt sich wider in den ernsten Gesichtern der Mädchen und Jungen des Jugendzentrums Neschama, in ihrer bewegenden Rezitation zu Ehren der Opfer der Schoah. "Ohrenbetäubende Stille ist bis heute alles, was wir von sechs Millionen ermordeten jüdischen Männern, Frauen und Kindern hören können", sagt Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern. "Wer heute unterwegs ist an den Orten des Schreckens - in Auschwitz oder Dachau -, den trifft diese Stille. Sie ist das verstummte Lachen und die nie wieder gehörte Stimme von Millionen geliebter Menschen. Sie begleitet die Generationen, die nach dem Holocaust geboren wurden, ebenso wie uns Überlebende. Sie begleitet mich seit fast acht Jahrzehnten."

Der Staffelstab der Erinnerung

Ellen Presser, Leiterin des Kulturzentrums der Gemeinde, hat am Vorabend von Jom HaSchoah, dem israelischen Nationalfeiertag zum Gedenken an die Opfer der Schoah und des jüdischen Widerstandes, diese großartige Veranstaltung unter das Motto gestellt "Den Staffelstab der Erinnerung weitergeben". An diesem Mittwochabend wird in der Synagoge "Ohel Jakob" des 79. Jahrestags des Aufstandes im Warschauer Ghetto und des 77. Jahrestags der Befreiung der Konzentrationslager auf deutschem Boden gedacht, dazu gehört auch Dachau. Der Landesverband der israelitischen Kultusgemeinden hat seine Gedenkveranstaltung in der KZ-Gedenkstätte am Sonntag, 1. Mai, abgesagt - zum Schutz der zumeist älteren Menschen in der Corona-Pandemie findet nur ein stilles Gedenken mit einer Kranzniederlegung statt.

"Die Fragen, die uns wehtun"

Die Zukunft der Erinnerung - diese Frage steht auch im Zentrum der Gedenkstättenarbeit in Dachau. Charlotte Knobloch sagt, die junge Generation stehe in der Pflicht, ob sie nun jüdisch oder nicht jüdisch ist, die Erinnerung zu bewahren auf der Grundlage der Erzählungen von Überlebenden. Besonders in der Zeit, in der es bald keine Zeitzeugen mehr geben werde. Sie, sagt Knobloch, habe Vertrauen in die junge Generation. "Sie wird nicht zulassen, dass die Vergangenheit vergessen wird." Der Konsens des "Nie wieder!" werde immer heftiger angegriffen. Der offene alltägliche Antisemitismus nimmt auch in Bayern zu. Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (Rias Bayern) erfasste im vergangenen Jahr 447 antisemitische Vorfälle - rund 82 Prozent mehr als im Vorjahr. Besonders häufig wird die Relativierung des Holocaust oder die Verhöhnung der Opfer des Nazi-Terrors während Corona-Demos beobachtet.

Diese Fragen beschäftigen auch Gabriele Hammermann, Leiterin der KZ-Gedenkstätte Dachau. Die junge jüdische Generation wird Knobloch nicht enttäuschen. Aber die nicht jüdischen Deutschen? 47 Prozent der befragten 14- bis 16-Jährigen wissen einer Forsa-Umfrage von 2017 zufolge nicht, was Auschwitz ist. "Das Thema müsste im Schulunterricht, aber auch bei Trägern von Jugend- und Kulturarbeit eine größere Rolle spielen", sagt Hammermann im Gespräch mit der SZ. "Das System der Zwangsarbeit zum Beispiel, die verschiedenen Arten ziviler, militärischer, KZ-Zwangsarbeit, wird in seiner wirklichen Dimension nicht ausreichend vermittelt. Ich plädiere also für eine intensivere Beschäftigung mit dem Thema in allen Schultypen", so die Historikerin. Historisch-politische Bildung ist die notwendige Voraussetzung, aber das Wissen von Zahlen und historischen Fakten alleine reicht nicht aus. Auch Besucher, so Hammermann, stellten zunehmend die Frage nach den Tätern, nach den sie umgebenden Gesellschaften. "Es sind letztlich all die Fragen, die uns wirklich weh tun. Deshalb folgt die Konzeption der neuen Dauerausstellung in den beiden rekonstruierten Häftlingsbaracken dem Oberbegriff der Handlungsoptionen, also wer hat wie welche Verantwortung in der NS-Zeit getragen." Die Aufarbeitung in den Familien des Tätervolkes, in denen nach 1945 das Narrativ vorherrschend war, selbst Opfer gewesen zu sein, hat längst noch nicht begonnen.

Dachau und die Schoah: "Ohne Erinnerung kommt das Leben zum Stillstand." Charlotte Knobloch, frühere Präsidentin des Zentralrats der Juden, kann noch persönlich von den Schrecken der Schoah Zeugnis ablegen.

"Ohne Erinnerung kommt das Leben zum Stillstand." Charlotte Knobloch, frühere Präsidentin des Zentralrats der Juden, kann noch persönlich von den Schrecken der Schoah Zeugnis ablegen.

(Foto: Sven Hoppe/picture alliance/dpa)

Dachau: Am 22. März 1933 wurde das Lager zunächst für politische Gefangene errichtet, die im Widerstand zum Naziregime standen. Aber das Konzentrationslager und seine Außenlager waren sehr rasch auch Schauplatz der Judenverfolgung und der Schoah. Nach dem Novemberpogromen 1938 wurden knapp 11.000 Juden aus Deutschland und Österreich nach Dachau deportiert. 1944 verschleppten die Deutschen Tausende von Jüdinnen und Juden aus den Vernichtungslagern und Ghettos in Osteuropa in die Außenlager, wo sie durch Zwangsarbeit für die deutsche Rüstungsindustrie vernichtet werden sollten. Bis zur Befreiung am 29. April 1945 durch Einheiten der 7. US-Armee waren in Dachau mehr als 200.000 Menschen aus 40 Nationen gefangen, ungefähr 41.500 überlebten Terror und systematische Vernichtung nicht. Millionen von Slawen, die von den Deutschen zu "Untermenschen" erklärt wurden, eine halbe Million im Rassenwahn ermordeter Sinti und Roma und sechs Millionen europäischer Juden, denen die Deutschen in ihrem Judenhass das Recht auf Leben abgesprochen hatten.

Der Schmerz steigt auf, die Stimme versagt

Ellen Presser hat Charlotte Knobloch überredet, an diesem Abend in der Gemeinde als Zeitzeugin aufzutreten. Ihre Erzählung erweckt die historischen Fakten zum Leben - vor dem Auge des Zuhörers entsteht das Bild eines kleines Mädchens, das auf einem Bauernhof in Franken versteckt wird, das kein Wort über seine wahre Identität preisgeben darf, weil sie und ihre Retter sonst dem Tod ausgeliefert wären. Ein Mädchen, dass die Katze auf dem Bauernhof umklammert und nicht mehr hergeben möchte, denn nur den Tieren kann es vertrauen. Knoblochs Stimme bricht, als sie von ihrer Großmutter Albertine Neuland erzählt, sie kämpft mit den Tränen, die Erinnerung, der Schmerz steigt in ihr auf und schnürt die Kehle zu. Die Großmutter, die im Abschied die Größe besitzt, ihrer Enkelin einzureden, sie fahre auf eine Kur und würde gesund zurückkommen. Aber Charlotte hat schon die brennende Synagoge in München gesehen, die liebevolle Lüge kann sie nicht trösten - Albertine Neuland wird in Theresienstadt den Hungertod sterben.

"Es täte uns gut innezuhalten"

Charlotte Knobloch sagt an diesem Abend: "Eine Zeit ohne Zeitzeugen, das ist eine Welt, in der das, was niemals vergessen werden darf, beginnt zu verschwimmen." Es ist der Vorabend von Jom HaSchoah. In Israel werden am Tag darauf im ganzen Land Sirenen heulen, und für ein paar Minuten erstirbt das öffentliche Leben im Andenken an die Opfer der Schoah. "Wir hören in Deutschland keine Sirenen. Es täte uns aber gut innezuhalten. Ohne Erinnerung kommt das Leben zum Stillstand."

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: