Wenn das Stück von Charles Ives ertönt, weiß man, jetzt muss einer dran glauben. In „Lola rennt“ etwa oder in „Der schmale Grat“ wird „The Unanswered Question“ als düstere Filmmusik eingesetzt. Orchester hierzulande indes spielen Ives’ Musik bis heute kaum – und das, obwohl er nach seinem Tod aufgestiegen ist in den Rang des vielleicht bedeutenden amerikanischen Komponisten. „The Unanswered Question“, dessen erste Fassung aus dem Jahr 1906 stammt, bildet da keine Ausnahme.
Umso erstaunlicher also, dass die Camerata Vitilo, das Festspielensemble beim Musikfest Blumenthal, dieses mysteriöse Stück von kaum sechs Minuten Spieldauer am Sonntagabend als räumliches Hörerlebnis, sozusagen in Dolby Surround geschickt live inszeniert.
Während vorne auf der Bühne die Bläser noch auf ihren Einsatz warten, setzen im Rücken des Publikums die Streicher ein. Die leisen, sehr langsamen Akkorde sorgen für eine räumliche Klangtiefe, die schlichtweg überwältigend und am Ende des lang gezogenen Raums so schwer zu verorten ist, dass sie ebenso gut aus dem Jenseits kommen könnte. Wie von Ferne schallt eine Trompete, siebenmal wird man sie hören, siebenmal dasselbe Thema – immer die gleiche drängende Frage: die nach der Existenz. Mit virtuosen dissonanten Eruptionen antwortet das kleine Bläserensemble. Sechsmal. Dann schweigt es. Die Antwort bleibt offen.
Mit Mozart nimmt das Konzert Fahrt auf
Aber vielleicht, sei es ja Mozart, der die Antwort geben könne, sagt Georg Arzberger. So leitet der Organisator des Festivals gleich elegant zum nächsten Programmpunkt über: zu Mozarts „Sinfonia Concertante“. Es ist ein wahres Kontrastprogramm zur hypnotischen Eröffnung, Hochgeschwindigkeit statt Slow Motion, lichte Diesseitigkeit statt düsterem Existenzialismus, und während bei Ives die musikalischen Elemente, wenn überhaupt, nur lose zusammengefügt sind, ist bei Mozart der Part von Orchester und Solisten aufs Engste miteinander verwoben. Den Musikern verlangt dies ein Höchstmaß an Sicherheit und Präzision im Spiel ab, vor allem im Zusammenspiel.
Dass die Camerata Vitilo die Herausforderung mit Bravour meistert, versteht sich angesichts der herausragenden Klasse der Musiker fast von selbst. Bis in die feinste Nuance werden die mal schmelzend lyrischen, mal ausgelassen volkstümlichen Passagen lustvoll ausgespielt. Es ist eine wahre Freude, und man hat den Eindruck: Diese Freude ist ganz aufseiten der Musiker – und das, obwohl Arzberger sie „für einen Hungerlohn“ engagiert hat für dieses Festival, wo jeder nur so viel zahlt, wie er kann und mag.
Die Solisten kommen alle aus renommierten Ensembles
Der Dachauer Georg Arzberger steht selbst auf der Bühne, wo ein Mann mit diesen musikalischen Fähigkeiten natürlich auch hingehört. Von 2006 bis 2017 war er am Orchester der Deutschen Oper Berlin beschäftigt, inzwischen lehrt er in München an der Hochschule für Musik in München Klarinette, Arzberger ist ein Meister seines Fachs. Was auch für den Solo-Fagottisten Christoph Knitt von der Kammerakademie Potsdam gilt, für Pascal Deuber, den Solo-Hornisten vom Bayerischen Staatsorchester und Preisträger zahlreicher Wettbewerbe und nicht zu vergessen für Giorgi Gvantseladze. Der Solo-Oboist des Bayerischen Staatsorchesters hat schon mit Stars wie Mariss Jansons, Zubin Mehta und Kent Nagano zusammengearbeitet.
Bei diesem Konzert müssen die Musiker allerdings ohne Dirigenten auskommen. Es ist die Geigerin Yuki Kasai, die hier sämtliche Fäden zusammenhält. Für diese äußerst anspruchsvolle Rolle hätte man wohl auch kaum eine bessere finden können als sie. Yuki Kasai spielt beim Münchener Kammerorchester als Konzertmeisterin schon seit Jahren die erste Geige, auch im übertragenen Sinne.
Beethoven ist kein Schönwettermusiker
Im zweiten Teil des Konzerts erklingt Beethovens vierte Sinfonie. Er schrieb sie, bis über beide Ohren verliebt in die Komtesse Josephine Brunsvik, in einem Rausch der Euphorie. Aus dem feierlichen Adagio brechen jubilierende Melodien, die die Bläsersolisten in den wunderbarsten Klangfarben malen, es tirilieren die Waldvögel, Hornklänge schmeicheln dem Ohr wie die Sommersonne dem nassen Zeh, übermütig hüpft das Pizzicato der Violinen.
Doch Beethoven ist kein Schönwettermusiker, wo ein Lüftchen weht, muss irgendwann zum Sturm aufbrausen. Die zart getupfte Pauke donnert dumpf, die Bögen rasen, zwei kleine Kinder turnen zwischen den Stuhlreihen, ansonsten: atemloses Lauschen.
Nachdem der letzte Takt verebbt ist, brandet Applaus auf, Bravorufe erschallen, viele applaudieren im Stehen. Mehrere Male müssen die Künstler wieder auf die Bühne kommen. Das Musikfest Blumenthal ist zu Ende, aber die Euphorie wirkt nach.