Jahresrückblick:"So einen Wahlkampf hat noch keiner erlebt"

Bundestagswahl 2021

Obwohl die Rollen nach der Wahl neu verteilt sind, können sich sowohl Katrin Staffer als auch Michael Schrodi als Gewinner fühlen.

(Foto: Niels P. Jørgensen)

Katrin Staffler (CSU) ist jetzt Oppositionspolitikerin, Michael Schrodi (SPD) und Beate Walter-Rosenheimer (Grüne) sind Teil der Regierungsfraktionen. Wie konnte das passieren? Über einen außergewöhnlichen Wahlkampf mit vielen Unwägbarkeiten und Überraschungen.

Von Thomas Radlmaier, Dachau

Bevor beschrieben werden soll, wie die Pandemie die Parteien im Landkreis Dachau in eine neue politische Realität katapultierte, lohnt sich ein Blick auf eine der wenigen Konstanten in 2021. Etwas, auf das sich jeder politisch interessierte Mensch in Deutschland und im Landkreis verlassen kann, Corona zum Trotz: Immer um kurz nach 18 Uhr eines Wahlabends flimmern die ersten Prognosen über die TV-Bildschirme. Und immer verfolgen Politiker und Journalisten im Dachauer Landratsamt gemeinsam, wie sich die Hochrechnungen zu Ergebnissen verfestigen. Im großen Sitzungssaal schauen die Anwesenden gebannt auf zwei Fernseher, auf denen die Wahlberichterstattung von ARD und ZDF läuft. Meistens schlägt einer von der CSU irgendwann vor, auf den BR umzuschalten, weil da der Fokus auf das Wahlergebnis in Bayern liegt. Das Resultat ist der CSU wichtiger als das deutschlandweite Abschneiden der Union; es legitimiert ihren Machtanspruch in Berlin.

In diesem Rahmen läuft auch der Abend des 26. September 2021, des Tages der Bundestagswahl, im Landratsamt an. Und doch ist im zweiten Pandemie-Jahr alles anders. Ein Häufchen CSU-Politiker, darunter der Landtagsabgeordnete Bernhard Seidenath sowie einige Bürgermeister, sitzen um kurz nach 18 Uhr mit versteinerten Gesichtern am Tisch. Alle starren auf die Bildschirme, auf die für die Union miserablen Zahlen. Niemand sagt einen Ton. Fast möchte man glauben, sie haben sich verabredet, ihren Frust eisern zu verbergen. Umschalten auf den BR. Bayern, das zählt. Die erste Hochrechnung zu den Bayernergebnissen läuft. Doch die CSU-Politiker reagieren fast so, als ginge sie das nichts an. 31,7 Prozent bei der Zweitstimme für die CSU - das wird später das Endergebnis sein. Eine niederschmetternde Zahl. Zwar gewinnt die CSU-Kandidatin Katrin Staffler haushoch das Direktmandat im Wahlkreis Dachau/Fürstenfeldbruck. Doch dieser Sieg wird von einer Niederlage überragt. Es ist das Ende von 16 Jahren Regierung unter der Führung von CDU/CSU. Eine neue politische Zeitrechnung beginnt, auch im Landkreis.

Wie sollen die Wahlkämpfer die Wähler erreichen, wenn sie doch Abstand zu ihnen halten sollen?

Deren Vorboten kündigen sich zu Jahresbeginn an. Alle Parteien und ihre Mitglieder wissen, dass der Wahlkampf 2021 schwieriger sein wird als alle vorherigen. Katrin Staffler (CSU), die das Direktmandat verteidigen will, und ihre größten Konkurrenten Beate Walter-Rosenheimer (Grüne) und Michael Schrodi (SPD) sind sich einig: "So einen Wahlkampf hat noch keiner erlebt." Die Pandemie knechtet alle Wahlkampfplaner mit Unwägbarkeiten. Was im Januar gilt, kann im Sommer ganz anders sein. Großkundgebungen, wie der gewohnte Politische Dienstag auf dem Dachauer Volksfest, sind unmöglich. Doch wie sollen die Wahlkämpfer die Wähler erreichen, wenn sie doch Abstand zu ihnen halten sollen? Um diese Frage kreisen die Überlegungen der Parteien und ihrer Kandidaten und Kandidatinnen im Frühjahr. Rückblickend lässt sich festhalten: Jede Partei findet andere Antworten - und ist mal mehr mal weniger erfolgreich.

Für die CSU und Katrin Staffler wird es ein Stolperstart in den Bundestagswahlkampf. Ende April kommen 150 CSU-Delegierte im Brucker Stadtsaal zusammen, um Katrin Staffler zu nominieren. Das stößt manchem übel auf. Derartige Veranstaltungen fallen zu dieser Zeit wegen der Pandemie eigentlich aus. Andere Parteien - zum Beispiel die SPD - küren ihre Bundestagsbewerber bei Freiluftversammlungen, um Infektionen zu vermeiden. Im Nachbarwahlkreis Starnberg bestimmen die Freien Wähler ihren Kandidaten bei fünf Grad Celsius. Staffler und ihre Partei müssen dem Eindruck entgegentreten, dass für die CSU die sprichwörtliche Extrawurst gilt. In der Pandemie können aus Fettnäpfchen schnell Fettbottiche werden.

In ihrem Einladungsschreiben an Delegierte und Medien weist die CSU darauf hin, dass Wahl- und Aufstellungsversammlungen von politischen Parteien verfassungsrechtlich geschützt seien und dem bayerischen Versammlungsgesetz unterliegen. Deshalb seien sie nach der derzeit geltenden Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung auch zulässig. Die Message dahinter: Für uns gelten die gleichen Regeln wie für alle anderen auch. Bei der Nominierungsversammlung schicken die Delegierten Katrin Staffler dann mit einem formidablen Ergebnis von 96 Prozent aller Stimmen ins Rennen. Es ist eine Stärke der CSU, dass ihre Mitglieder eng zusammenrücken, wenn sie in die Defensive geraten.

Es scheint, als hätten Staffler und die CSU aus diesem holprigen Auftakt ihre Schlüsse gezogen. Fortan setzen sie im Wahlkampf auf eine Mischung aus Präsenz- und Onlineveranstaltungen. Einerseits tritt die CSU-Abgeordnete gemeinsam auf mit Parteigrößen wie Alexander Dobrindt, andererseits fällt auf, dass Staffler mehr als andere Kandidaten das Internet für den Wahlkampf nutzt. Bei einigen Online-Formaten gleichwohl bleiben politische Inhalte des Öfteren auf der Strecke. Einmal kochen Staffler und ihre Dachauer Parteifreundin Julia Grote Kürbis-Gnocchi und streamen das live ins Internet. Und bei einem anderen Online-Auftritt sprechen Staffler und ein anderer CSU-Direktkandidat 45 Minuten lang mit Markus Söder über zwei Themen: Markus Söder und wie Markus Söder zu Markus Söder wurde.

Wirklich gefährdet ist Stafflers Wahlsieg nie. Am Ende schlägt die Türkenfelderin ihre Kontrahenten wie schon vor vier Jahren deutlich. Wenngleich auch sie im Vergleich zu 2017 Stimmen einbüßen muss. Ihre Partei dagegen kassiert eine heftige Watschen. Bei den Zweitstimmen holt die CSU mit 33,3 Prozent das zweitschlechteste Ergebnis seit 1949 im Wahlkreis. Damit hält der Niedergang an, der bereits bei der Bundestagswahl 2017 begann.

"Da ist jetzt eine offene Flanke. Da wird gebohrt"

Während die Stimmungskurve bei der CSU das ganze Jahr über eher nach unten als nach oben ausschlägt, verläuft sie bei den Grünen anders, wenn auch am Ende mit ähnlichem Ergebnis. Die Grünen starten angesichts der Nominierung ihrer ersten Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock euphorisch in den Wahlkampf. Doch schnell drücken Diskussionen um Baerbock und insbesondere deren missglückten Buchveröffentlichung die Stimmung. Bei ihrem Wahlkampfauftakt in Gröbenzell muss die Dachauer Kandidatin Beate Walter-Rosenheimer ihre Parteifreundin in Schutz nehmen: "Es ist irrsinnig, wie sie angegangen wird", sagt sie über die politischen und medialen Attacken auf Baerbock. Die Abgeordnete, die seit 2012 im Bundestag sitzt, weiß aber auch: "Da ist jetzt eine offene Flanke. Da wird gebohrt."

Die Dachauer Grünen gehen in die Offensive - und werden belohnt. Ihnen gelingt der Scoop des Wahlkampfs im Wahlkreis: Sie holen Annalena Baerbock rund einen Monat vor der Bundestagswahl als Rednerin zum "Sommer auf der Thoma-Wiese", der Ersatzveranstaltung für das Dachauer Volksfest. Es ist ein historischer Politischer Dienstag. Noch nie zuvor musste ein Redner oder eine Rednerin dieser Veranstaltung ohne Bierzelt auskommen. Wegen der Pandemie durfte die Stadt keines aufstellen.

Der Freiluftauftritt ist durchaus auch ein Wagnis für Baerbock und die Dachauer Grünen. Vieles kann schiefgehen. Regnet es? Kann Baerbock das Publikum in so einer Atmosphäre begeistern? An einem frischen, aber trockenen Augustabend betritt Baerbock eine Bühne im Biergartenbereich. 1300 Menschen sind gekommen. Sie hält keine Haudrauf-Rede, wie man das von anderen Politischen Dienstagen kennt. Stattdessen sagt sie häufig die Wörter "gemeinsam" und "Mut", etwa "Mut, das Land klimaneutral zu machen" oder Mut, jetzt vorausschauende Entscheidungen zu treffen und nicht abzuwarten, "bis die nächste Krise kommt". Das kommt gut an bei den Besuchern, von denen freilich viele mit den Grünen sympathisieren. Als Baerbock die Bühne später wieder verlassen und zu ihrem Wahlkampfbus gehen will, verschwindet sie in einer Menschentraube, die wächst und wächst. Alle wollen ein Erinnerungsfoto schießen. Baerbock wird in Dachau gefeiert wie ein Rockstar - für die Dachauer Grünen ist der Abend ein Erfolg auf ganzer Linie.

Doch letztlich müssen sich die Grünen im Wahlkreis am Wahlabend wie Verlierer fühlen. Bei der Zweitstimme kommen sie im Wahlkreis auf fast 16 Prozent. Man will sich freuen, ärgert sich dann aber doch angesichts der Höhenflüge in den Umfragen, die Erwartungen geweckt haben. Lange scheint es, als ob Beate Walter-Rosenheimer den Wiedereinzug verpasst hätte. Sie räumt in Berlin schon ihr Büro aus. Erst nach der abgeschlossenen Prüfung aller abgegeben Stimmen Mitte Oktober ergibt sich, dass die bayerischen Grünen 188 Stimmen mehr haben. Damit ist Walter-Rosenheimer plötzlich doch wieder drin im Bundestag. Es ist ein versöhnlicher Peak in der grünen Stimmungskurve.

Mit Olaf Scholz steigt Michael Schrodi auf

2021 ist ein Jahr der politischen Überraschungen. Aussagen, die einige Sozialdemokraten im Frühling treffen, sind aus heutiger Perspektive fast witzig: "Es sieht aktuell nicht so aus, als würde die SPD den Kanzler stellen", sagt Hubert Böck, der Indersdorfer SPD-Ortsvorsitzende Ende April. Wobei man Böck verteidigen muss. Damals rechnet kaum jemand damit, dass Olaf Scholz rund acht Monate später als Kanzler vereidigt wird. Mit Scholz steigt auch Michael Schrodi parteiintern auf. Im November wird der Dachauer Abgeordnete zum stellvertretenden Vorsitzenden der SPD Oberbayern gewählt. Mitte Dezember ernennt ihn die Bundestagsfraktion zum finanzpolitischen Sprecher. Was ist zwischen April und Dezember passiert?

Für die SPD im Wahlkreis Dachau/Fürstenfeldbruck hat sich ausgezahlt, dass sich Michael Schrodi in den vergangenen vier Jahren innerhalb der Parteiführung einen Namen gemacht hat. Er ist sehr gut vernetzt. Das ermöglicht ihm Wahlkampfauftritte mit den Parteigranden. Schrodi, der bei seinen Wahlkampfterminen oft knallrote Schuhe trägt, spaziert im August mit dem damaligen Generalsekretär Lars Klingbeil durch Dachau. Anfang September besuchen Schrodi und die Parteivorsitzende Saskia Esken die KZ-Gedenkstätte Dachau. Nur fünf Tage vor der Wahl kommt der damalige Parteichef Norbert Walter Borjans nach Olching, um für den Olchinger Schrodi eine Wahlempfehlung abzugeben. Die prominente Unterstützung hilft: Bei der Bundestagswahl macht fast jeder vierte im Wahlkreis sein Kreuz bei Schrodi. Für ihn ist jetzt alles möglich, auch der Sieg bei der Landtagswahl in zwei Jahren. "Wir werden im Team alles tun, um im Herbst 2023 ein gutes SPD-Ergebnis einzufahren und die CSU auch in Bayern in die Opposition zu schicken", sagt er bei einem Parteitag.

Am Wahlabend treffen Katrin Staffler und Michael Schrodi im Landratsamt aufeinander. Im TV läuft noch immer Wahlberichterstattung. Längst ist klar, dass Staffler das Direktmandat verteidigt hat. Zudem zeichnet sich ab, dass die SPD in Deutschland als Wahlsieger hervorgehen wird. Staffler und Schrodi können sich beide als Gewinner fühlen. Sie unterhalten sich nett. Beide grinsen. Schon bald wird er ihre und sie seine Rolle einnehmen. Schrodi ist jetzt Teil der Regierungsfraktion, Staffler Oppositionspolitikerin. Man muss sich noch daran gewöhnen.

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