Süddeutsche Zeitung

Bundestagswahl im Landkreis Dachau:"Die Bundestagswahl ist eine Richtungswahl"

In Dachau wirbt Annalena Baerbock für eine klimaneutrale Industriepolitik. Mit ihrem sachlichen Stil punktet die Kanzlerkandidatin der Grünen bei ihren Anhängern.

Von Thomas Radlmaier, Dachau

Der Baerbock-Bus, mit dem die erste grüne Kanzlerkandidatin durch das Land tourt, parkt noch auf der Thoma-Wiese, er wäre eigentlich bereit zur Abfahrt. Doch nachdem Annalena Baerbock an diesem Dienstagabend bei ihrem Auftritt in Dachau die Bühne gegen halb acht verlassen hat und zum Parkplatz aufbrechen will, verschwindet sie in einer Menschentraube, die wächst und wächst. Alle wollen ein Erinnerungsfoto schießen. Die Selfiejäger tragen hauptsächlich grüne Masken, doch da sind auch weiße, pinke, blaue und schwarze. Baerbock nimmt sich für alle Zeit. Sie posiert, spricht, hört zu. Einmal kommt eine junge Mutter auf sie zu, ihr Baby trägt sie in einem Tragetuch. Baerbock streichelt ihm über die Wange. Dann arbeitet sie sich zwischen den Biertischgarnituren weiter in Richtung Parkplatz vor, während die Band DeSchoWieda von der Bühne den Song "Oh Mare" runterdudelt. Der Sänger singt: "I hob mi heid in di verschaut, i lass di nimma aus." Der Baerbock-Bus muss warten.

Die Rednerin des Abends, gefeiert wie ein Rockstar - das ist natürlich eine Szene, welche den Dachauer Grünen ganz besonders gefallen dürfte. Sie haben diesen historischen Politischen Dienstag, der erstmals im Freien stattfindet, in Rekordzeit organisieren müssen, mit allen Sicherheits- und Corona-Auflagen. Den Biergarten-Bereich des Sommers auf der Thoma-Wiese, der am Montag endete, haben sie umgebaut, die Biertische mit Sonnenblumen und kleinen grünen Windrädern dekoriert. Erst am 22. Juli habe man von den Behörden Bescheid gekriegt, dass man die Veranstaltung machen dürfe, sagt Martin Modlinger, der Ortsvorsitzende. "Das war ein bissl ein Spurt."

Ein Spurt, der sich für die Grünen freilich auch in Stimmen für die Bundestagswahl auszahlen soll. Die Voraussetzungen sind bestens. Das Wetter hält, das Interesse an der Veranstaltung ist groß. Fast alle Plätze sind belegt, etwa 1300 Menschen sind da, darunter viele Mitglieder der Grünen. An den Biertischen hocken aber auch Besucher, die noch nicht genau wissen, wo sie am 26. September ihr Kreuz machen sollen. Einige haben sich auch spontan entschlossen, hierher zu kommen. Vor Beginn der Veranstaltung staut es sich an der Abendkasse. Johannes Becher, Landtagsabgeordneter und Moderator des Abends, erkennt darin gar eine "Schlange bis nach Karlsfeld".

Um 18.20 Uhr betritt dann Annalena Baerbock den Biergartenbereich auf der Thoma-Wiese und schreitet unter Applaus zu einem Tisch direkt vor der Bühne. Für sie ist dies der elfte Termin ihrer Wahlkampftour, die in der vergangenen Woche begonnen hat. Mittags trat sie in Bamberg auf. Jetzt verfolgt sie, wie Becher, ein geborener Bierzelt-Redner, in feinstem Oberbairisch die Stimmung anheizt. Er erinnert an den Auftritt von Robert Habeck beim Politischen Dienstag vor der Landtagswahl 2018. Dieser sei damals die Initialzündung gewesen für den "größten grünen Wahlkampf aller Zeiten in Bayern", sagt Becher und ergänzt: "Heute starten wir wieder durch." Die Vergleiche mit Robert Habeck, der mit Baerbock gemeinsam Co-Vorsitzender ist und für manche der bessere Kanzlerkandidat gewesen wäre, kennt die 40-Jährige ja.

Dann betritt sie die Bühne. Baerbock streift sich die weiße FFP2-Maske vom Gesicht. Sie spricht frei, hat nicht mal ein Rednerpult. Neben ihr steht eine Gebärdendolmetscherin, die simultan übersetzt und bei Applaus beide Hände hochhält und hin und her dreht. Baerbock begrüßt zu Beginn auch ausdrücklich alle Kinder. Mehrmals wird sie in ihrer Rede betonen, dass die neue Bundesregierung die Kinder in den Mittelpunkt stellen solle. Gleich am Anfang sagt sie: "Die Bundestagswahl ist eine Richtungswahl." Sie fordert, die Schulen besser auszustatten und das Gesundheitssystem endlich auf Vorsorge auszurichten. Am längsten redet sie über die Klimakrise. Deren Auswirkungen könne man auch in Deutschland "live und in Farbe" beobachten und verweist dabei auf Hochwasser, brennende Wälder und Dürre, unter welcher die Bauern leiden. Mit Blick auf die Zukunft und die Auswirkungen der Klimakrise, die immer deutlicher werden, sagt sie: "Es ist unsere Verantwortung, dass unsere Kinder noch in Freiheit leben können." Um diese zu sichern, müsse man etwa den geplanten Kohleausstieg deutlich vorziehen.

Das Publikum applaudiert zunächst zaghaft, doch im weiteren Verlauf der Rede drehen sich die Hände der Gebärdendolmetscherin so oft hin und her, dass einem fast schwindlig werden kann. Den lautesten Beifall erhält Baerbock, als sie sagt, dass Klimapolitik auch Industriepolitik sei. Hier wird sie konkret. Man müsse der Automobilbranche helfen, klimaneutral zu werden. Andernfalls seien die Arbeitsplätze in Zukunft zum Beispiel eben nicht mehr in Dachau, sondern in China. "Ich will, dass unser Land auch in Zukunft noch ein Industrieland ist."

Es ist keine Haudrauf-Rede, wie man sie vielleicht von vergangenen Politischen Dienstagen kennt. Baerbock wird selten laut, sie ballt auch nicht die Fäuste, stattdessen streckt sie oft beide Arme aus, um dann die Hände wieder zusammenzuführen. Die Wörter, die sie mit am öftesten in ihrer Rede verwendet, sind "gemeinsam" und "Mut". Etwa "Mut, das Land klimaneutral zu machen" oder Mut, jetzt vorausschauende Entscheidungen zu treffen und nicht abzuwarten, "bis die nächste Krise kommt". Die Attacken auf die politischen Gegner kommen eher indirekt daher. Etwa als Baerbock sich zum Debakel in Afghanistan äußert. Fahrern, Köchen, Dolmetschern - allen, die der Bundesrepublik in Afghanistan geholfen hätten, müsse man jetzt Sicherheit und Schutz geben, sagt Baerbock. Als Politiker dürfe man jetzt nicht weitermachen wie bisher. Stattdessen müsse man das Versprechen halten, die zu beschützen, "die uns beschützt haben. Auch in Wahlkampfzeiten", fordert die Kanzlerkandidatin.

Um 19.31 Uhr beendet Baerbock ihre Rede, die damit weniger als eine halbe Stunde gedauert hat. Sie verlässt die Bühne und verschwindet in der Menschentraube. War das jetzt die gewünschte Initialzündung für die Grünen? "Es war ein Signal, dass endlich was passieren muss", sagt etwa Stadtrat Thomas Kreß. Auch Johannes Becher sagt, er sei sehr beeindruckt. "Ganz sachlich, ganz konkret - so muss Politik sein. Es braucht kein Haudrauf, wenn man ein Land regieren will." So sieht das auch Jasmin Lang, Fraktionssprecherin im Stadtrat. Der Ortsvorsitzende Martin Modlinger ist ebenfalls überglücklich. Wie war es? "Super", sagt er. Gleich nach der Rede sei er mit Leuten ins Gespräch gekommen und habe mit ihnen über Politik diskutiert. Genau das brauche es. Kein Gegeneinander, sondern ein Miteinander.

Doch nicht alle Zuhörern sind so begeistert. Vor allem von Politkern anderer Parteien gibt es Kritik. Michael Eisenmann, Bündnis-Stadtrat, sagt: "Ich fand die Rede ganz gut." Aber er hätte sich ein bisschen mehr Angriff gewünscht. Robert Habeck sei vor drei Jahren inhaltlich konkreter geworden. Auch Peter Gampenrieder, ÜB-Stadtrat, sagt: "Wenn sie Kanzlerin werden will, muss sie konkreter werden. Es kamen nur Überschriften, die jeder kannte." Außerdem sei die Rede "sehr kurz" gewesen. Das kritisiert auch Günter Dietz, CSU-Stadtrat, der ebenfalls zugehört hat.

Zeit nimmt sich Annalena Baerbock jedenfalls für ihren Abschied aus Dachau. Nach mehr als zehn Minuten erreicht sie schließlich den Parkplatz und steigt in ihr grünes Wahlkampfmobil. Dann rollt der Baerbock-Bus langsam weg.

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Quelle:
SZ vom 19.08.2021
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