Süddeutsche Zeitung

Buchbesprechung:Eine Hausfrau bricht aus

Lesezeit: 3 min

Ingrid Zellners neuer Roman erzählt von einer späten Emanzipation

Von Anna-Elisa Jakob, Dachau / Tübingen

Normalerweise bleiben die Türen des Evangelischen Stiftsgartens Besuchern verschlossen. Doch für das Tübinger Bücherfest macht man schon mal eine Ausnahme: Viele Besucher kamen, um in dem romantischen Ambiente das Autorenduo Ingrid Zellner aus Dachau und Simone Dorra aus dem schwäbischen Welzheim bei der Vorstellung ihres neuen Romans "Kuckuckssohn" zu erleben. Die Lesung war sehr gut besucht, das Publikum interessiert, das Wetter freundlich und Ingrid Zellner am Tag danach überglücklich. "Es war perfekt", schwärmt sie.

Dass dieser Roman in einer deutsch-schwedischen Liebesgeschichte endet, ist bereits nach einem Bruchteil der rund 350 Seiten klar. Vor allem für diejenigen, die zuvor bereits andere Werke der Dachauer Autorin Ingrid Zellner gelesen haben, ihre Vorliebe zu Schweden und verkorksten zwischenmenschlichen Beziehungen kennen. Doch auch all die anderen Leser werden von dem Moment an, in dem Elisabeth Gebhard und Göran Åssason aufeinandertreffen, auf diese Liebesgeschichte vorbereitet. Die Rahmenbedingungen gestalten die Autorinnen Ingrid Zellner und Simone Dorra trotzdem möglichst schwierig, was der Geschichte einige unvorhergesehene Wendungen garantiert.

Dass der Plot in einer vorhersehbaren Liebesgeschichte zwischen Göran und Elisabeth endet, ist nicht schlimm. Denn es wäre sowieso falsch, diesen Roman als reines Liebes- und Ehedrama zu lesen. Im Grunde ist es die Figur der Elisabeth Gebhardt, mit der es gelingt, ein Rollenbild aufzugreifen und dieses sanft zu zerpflücken - verpackt in einer persönlichen Geschichte. Rollenbilder leben in vorhersehbaren Zwängen, Elisabeth überwindet ihre alte Rolle in dieser Geschichte beinahe zufällig, durch einen Anstoß von außen, geleitet durch ihre eigenen Wünsche.

Elisabeth ist Mutter und Hausfrau, hält die Familie zusammen. All das in einer modernen Welt, die Frauen sämtliche Freiheiten ermöglicht und trotzdem Erwartungen alter Rollenbilder weiter bestehen lässt. So hält Elisabeth um der Harmonie Willen am traditionellen Familienbild fest, hält sich selbst zurück, merkt all das und will es sich aber nicht recht eingestehen. Sie verzichtet enttäuscht auf Urlaube, die ihr Mann ungefragt storniert hat - da er als Anwalt gerade so viel Arbeit vor sich hat, wie er sagt. Bis ihre Tochter Vivien - aus der Generation der Millenials, in der es längst nicht mehr als Ausnahme gilt, nach dem Abitur alleine mit dem Rucksack die Welt zu erkunden und wie sie für mehrere Wochen nach Neuseeland aufzubrechen - es schafft, ihr die Augen zu öffnen. "Wenn ich alleine wegfliegen kann - wieso tust du das nicht auch?", bestärkt sie ihre Mutter.

So bricht Elisabeth auf nach Schweden zu einem Städtetrip, ohne die Absicht zu haben, sich in eine Liebschaft zu stürzen. Im Gegenteil: Ihre Familie und ihre Beziehung möchte sie auf keinen Fall gefährden. Aber auch in ihr regt sich der Wunsch nach persönlicher Freiheit. Insbesondere als sie merkt, wie groß die Abhängigkeit von ihrem Mann Markus ist und wie sehr sie diese einschränkt. So ist die Reise nach Schweden für Elisabeth vor allem ein Ausbruch aus all dem - und tatsächlich auch der Beweis für ihren Mann, dass sie sich selbst gut alleine zurechtfinden kann. Etwas, was ihm vorher nicht bewusst zu sein schien und Elisabeth selbst genauso wenig.

Den Lesern wird die schwedische Kultur und Lebensweise, die weit über Zimtschnecken und Kaffee hinausreicht, in diesem Buch sehr nahe gebracht, die Landschaft in deutlichen Facetten dargestellt. Immer wieder gibt es Passagen auf Schwedisch - Ingrid Zellner ist Lehrerin und Übersetzerin für die skandinavische Sprache - und anfangs auch einzelne Sätze auf Englisch, die nicht übersetzt werden. So, wie es eben auch im echten Leben ist, wenn verschiedene Sprachen und Kulturen aufeinandertreffen, vielleicht nicht immer jedes Wort verstanden wird, sondern manches nur von Gestik, Mimik und der Bereitschaft abhängt, sich gegenseitig verstehen zu wollen. Ein Buch, das die ständigen Möglichkeiten auf Veränderungen beweist - ganz alltäglich, aber vielleicht gerade deswegen lesenswert. "Kuckuckssohn" ist im Silberburg-Verlag erschienen und kostet 14,99 Euro.

Nach den Sommerferien liest Ingrid Zellner auch in Dachau: am 6. September um 19 Uhr im Café DAH-Inn (Kuckuckssohn, Mordshass) und am 17. November um 16 Uhr in der Stadtbücherei Zweigstelle Ost (Kuckuckssohn, Mordshass, Kashmir-Saga).

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Quelle:
SZ vom 08.07.2019
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