Süddeutsche Zeitung

Bevölkerungsentwicklung in Dachau:Wachstum außer Kontrolle

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Die Demografieprognose alarmiert Dachaus Kommunalpolitiker: Bis 2030 soll die Stadt auf 60 000 Einwohner wachsen - mit massiven Folgen für Schulen, Kitas und Verkehr. FDP-Stadtrat Jürgen Seidl fordert schon eine Reduzierung der geplanten Wohnbebauung auf dem MD-Gelände

Von Julia Putzger, Dachau

Verstopfte Straßen und kaum bezahlbarer Wohnraum, das sind nur zwei der Dinge, an denen die Bürger Dachaus das starke Wachstum der Stadt der vergangenen Jahre schon zu spüren bekommen. Eine Verschnaufpause für die Stadt und ihre rund 48000 Bewohner ist nicht in Sicht, denn stattdessen steht Dachau vor der nächsten, noch anspruchsvolleren Hürde: Die Bevölkerungsprognose lässt für die kommenden zehn Jahre etwa 8000 weitere Einwohner erwarten, spätestens zum Ende der 2030er-Jahre könnten mehr als 60 000 Menschen in der Stadt leben. Das übertrifft die von der Dachauer FDP geforderte Wachstumsgrenze von einem halben Prozent pro Jahr bei weitem.

Seit 2010 lässt die Stadt Dachau im Fünfjahresrhythmus eine Demografieprognose erstellen, die als Entscheidungsgrundlage für städtebauliche Fragestellungen dienen soll. Dass es solche Fragen zuhauf gibt, zeigte sich bereits in der vergangenen Woche, als im Familien- und Sozialausschuss ein Teilabschnitt der aktuellen Prognose vorgestellt wurde. Demnach muss die Stadt in den nächsten Jahren nicht nur eine fünfte Grundschule bauen, sondern auch die bestehenden Grundschulen schnellstmöglich erweitern und deutlich mehr Kinderbetreuungsplätze schaffen. Grund dafür ist das prognostizierte Bevölkerungswachstum, das den Stadträten nun im Bau- und Planungsausschuss detailliert vorgestellt wurde.

Neben Geburten- und Sterbefällen sind vor allem die Zu- und Fortzüge und damit das Flächenpotenzial der Stadt ausschlaggebend für die Entwicklung der Einwohnerzahl. Beim Flächenpotenzial - in der Stadt insgesamt rund 135 Hektar - wird zwischen Siedlungsbestand- und Siedlungsentwicklungsflächen unterschieden. Erstere machen in Dachau rund zwei Drittel aus und entziehen sich weitestgehend dem Einfluss der Stadt: Es handelt sich um Baulücken oder nur gering bebaute Flächen, auf denen schon Baurecht besteht. Außerdem spielt hier der Generationenwechsel eine entscheidende Rolle, denn Sterbefälle haben häufig eine höhere Nachbelegung der Wohnungen zur Folge. Mehr als die Hälfte des prognostizierten Nettozuzugs in Dachau ist dadurch bedingt. Will man die Zahlen an konkreten Projekten festmachen, muss man vor allem die Prognosen für das MD-Gelände und Augustenfeld Zentrum betrachten. Gemäß der Entwurfsplanung sollen allein in Augustenfeld Zentrum 968 Wohnungen und auf dem MD-Gelände 814 Wohnungen entstehen. Da bei beiden Projekten mit einer Fertigstellung Mitte der 2020er-Jahre gerechnet wird, würde das einen sprunghaften Bevölkerungsanstieg bedeuten. Für das Jahr 2025 und die beiden Folgejahre werden jeweils fast 1200 neue Einwohner prognostiziert.

Für FDP-Stadtrat Jürgen Seidl ist der Fall deshalb klar: Die Stadt muss bei beiden Projekten nachträglich den Rotstift ansetzen, sodass weniger Wohnraum als ursprünglich vorgesehen entsteht: "Noch hat die Stadt die Zügel in der Hand, aber wenn wir in der Größenordnung weitermachen landen wir in einer Sackgasse." Bereits im März forderte er in einem Antrag deshalb, das jährliche Bevölkerungswachstum auf 0,5 Prozent zu begrenzen. Angesichts der prognostizierten Daten scheint das jedoch utopisch: Sowohl der Generationenwechsel mit rund 0,63 Prozent als auch die Nachverdichtung von Baulücken und gering genutzten Grundstücken mit 0,33 Prozent generieren ein relativ konstantes durchschnittliches Jahresbevölkerungswachstum von einem Prozent. Somit liegt bereits der Prognosebereich, auf den die Stadt kaum Einfluss nehmen kann, weit über der beantragten Wachstumsgrenze. Oberbürgermeister Florian Hartmann (SPD) sagte dazu: "Das sind Zahlen, die man sich wünschen kann. Aber in die Realität übertragen lässt sich das nicht." Die Sache erinnert an die nie eingehaltene jährliche Wachstumsgrenze von einem Prozent, die sich der Landkreis 2013 im Rahmen des Projekts "Zwischen Dorf und Metropole" vorgeschrieben hatte.

Das Bündnis für Dachau hatte zudem einen Ergänzungsantrag zum FDP-Antrag gestellt, in dem gefordert wurde, den geförderten Wohnungsbau von einer solchen prinzipiell zu befürwortenden Wachstumsgrenze auszunehmen. Kai Kühnel (Bündnis) reagierte auf Hartmanns Vorschlag, den FDP-Antrag aufgrund von Realitätsferne nicht weiter zu behandeln, dementsprechend empört: "Man drückt sich hier um die Diskussion. Der Antrag ist nicht erledigt, auch wenn er in dieser Form unrealistisch ist."

Beim Blick auf die Prognose stelle sich nämlich vor allem die Frage, wie die Stadt das Wachstum und seine Folgen finanziell stemmen soll. Deshalb müsse man über mögliche bremsende Maßnahmen unbedingt nachdenken. Seidl, der nicht im Bau- und Planungsausschuss sitzt, gab auf Nachfrage der SZ zu, dass 0,5 Prozent "natürlich sehr sportlich" seien, man aber auch nicht gewusst habe, auf was für einer Basis man ansetzen müsse. Nun wolle man nachjustieren, die Abstimmung über den Antrag wurde schließlich vertagt.

Doch nicht nur eine mögliche Wachstumsbremse sorgte für Diskussionen im Ausschuss. Auch über die Frage, ob denn alles tatsächlich so eintreffe wie prognostiziert, war man sich nicht einig. OB Hartmann hatte angesichts der Auswirkungen auf Schulen und Kinderbetreuung bereits im Familien- und Sozialausschuss angekündigt, dass die Daten und Annahmen mit den Berichtverfassern nochmals genau überprüft werden. Gertrud Schmidt-Podolsky (CSU) erkundigte sich, inwiefern denn die Prognosen des Demografieberichts aus dem Jahr 2015 bereits eingetroffen seien, doch Andre Krimbacher vom zuständigen Büro PV München erklärte nur, dass die Prognosen aus dem Jahr 2015 aufgrund von Änderungen der Methodik nur bedingt mit den diesjährigen vergleichbar seien. Schmidt-Podolsky schlug vor, beide Großprojekte Augustenfeld Zentrum und MD-Gelände unverändert laufen zu lassen, "denn wir wissen ja alle, wie die Abläufe hier sind, es verzögert sich immer etwas." Markus Kellerer (AfD) wollte von den Experten wissen, inwiefern sich eine Wirtschaftskrise, die in Folge von Corona zu befürchten sei, auswirken könnte. Christian Rindsfüßer vom Institut SAGS, das ebenfalls an der Erstellung des Berichts mitwirkte, sagte, dass man hier nur spekulieren könnte, da nicht klar sei, wie nachhaltig sich eine solche Krise auswirken würde. Trotzdem müsse man am Ball bleiben, da die Entwicklung dann nicht aufgehoben wäre, sondern lediglich verschoben.

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Quelle:
SZ vom 18.07.2020
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