Bernhard Seidenath:"Wir haben einen Ruck pro Europa gespürt"

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Der CSU-Landtagsabgeordnete Bernhard Seidenath auf Besuch in Prag. Die Aufnahme zeigt ihn vor der Bayerischen Repräsentanz, die im Dezember 2014 eröffnet wurde und ein Forum des kulturellen Austausches zwischen Tschechen und Bayern bietet. (Foto: Privat/OH)

Der Dachauer Landtagsabgeordnete (CSU) macht sich für die bayerisch-tschechischen Beziehungen stark. Er hofft, dass diese gute Nachbarschaft dem wieder erstarkten Nationalismus und Rechtspopulismus in mittelosteuropäischen Staaten entgegenwirken wird

Interview von Helmut Zeller

Der eine schreibt Bücher, der andere macht Politik - würden sie sich einmal begegnen, hätten der österreichische Schriftsteller Robert Menasse und der Dachauer Landtagsabgeordnete Bernhard Seidenath (CSU) sofort ein Gesprächsthema: das krisengeschüttelte Europa, für dessen Zukunft jeder auf seine Weise kämpft. Klar, dass Menasses Roman "Die Hauptstadt", für den der Autor jetzt den Deutschen Buchpreis bekommen hat, schon auf dem Schreibtisch in Seidenaths Arbeitszimmer in Haimhausen liegt. Menasse verbrachte gleich drei Jahre in Brüssel, um für seinen großen Europa-Roman zu recherchieren. In der EU-Hauptstadt bekam Bernhard Seidenath als angehender Jurist einen Einblick in das babylonische Sprachengewirr und die verschlungenen Wege der EU-Bürokratie. Im Gespräch mit der SZ enthüllt der CSU-Parteivorsitzende im Landkreis Dachau, der sich auf Gesundheitsthemen spezialisiert hat, eine nicht so bekannte Seite von ihm: seine Europabegeisterung.

SZ: Wie kommt es, dass ausgerechnet Sie als Mitglied der Arbeitsgruppe Vertriebene der CSU-Landtagsfraktion sich für die bayerisch-tschechischen Beziehungen einsetzen?

Bernhard Seidenath: Gerade aus der Beschäftigung mit der gemeinsamen Geschichte heraus. In Ihrer Frage schwingt ein Vorurteil mit, und die spielen natürlich auch im europäischen Einigungsprozess eine negative Rolle. Fakt ist: Ohne Bernd Posselt (CSU), den Sprecher der Sudetendeutschen Landsmannschaft, das muss man klar sagen, wäre die Wende nicht möglich gewesen. Es gibt heute noch in der Landsmannschaft Leute, die eine Zusammenarbeit mit Tschechien ablehnen, solange die Beneš-Dekrete nicht aufgehoben werden. Ich kann deren Haltung schon verstehen, aber Posselt setzt sich dagegen durch und macht das hervorragend. Er sieht das Große und Ganze.

Sie bestehen also nicht darauf, dass die Dekrete aufgehoben werden?

Nein, man muss nicht auf diesen formalen Akt bestehen, weil die tschechische Seite bereits ehrliche und ernsthafte Schritte zur Aussöhnung gegangen ist. Ich erinnere an die Rede des tschechischen Premiers Petr Nečas 2013 im bayerischen Landtag. Er hat den Sudetendeutschen in großer Offenheit die Hand gereicht. Eine historische Rede, vergleichbar der Geste der Verbundenheit von Helmut Kohl und Francois Mitterand 1984 an den Gräbern von Verdun.

Die bayerische Seite war ja gefühlt eine Ewigkeit lang auf Konfrontationskurs zu Prag.

Bayern hat nach Kriegsende mehr als zwei Millionen Flüchtlinge aufgenommen und integriert. Das Land hat die Schirmherrschaft für den vierten Stamm, der nicht überall erwünscht war. Das war eine große integrative Leistung Bayerns, auch ein Grund, warum Bayern nun die Brücke schlagen kann. Begonnen hat die Annäherung aber doch gleich nach dem Fall des Eisernen Vorhangs 1990 mit der Gründung einer bayerisch-tschechischen Arbeitsgruppe. Vor Horst Seehofer war kein bayerischer Ministerpräsident in Tschechien, Günther Beckstein wollte das, wurde aber davor, 2008, abgewählt. Zwei Jahre später war Horst Seehofer erstmals in Prag, 2011 dann in Aussig, Theresienstadt und Lidice.

Warum gerade Seehofer?

Es lag in der Luft, Edmund Stoiber hätte es nicht gemacht, aber Seehofer ist ein Pragmatiker, die Zeit war reif. Ich glaube nicht, dass Horst Seehofer eine eigene persönliche Geschichte damit verbindet. Vielleicht ist das auch gut so. Im Dezember 2014 wurde die Bayerische Repräsentanz mitten in Prag eröffnet. Das war die Initialzündung. Mehr als alle Freundschaftsverträge zwischen Staaten tragen die Begegnungen zwischen Menschen zu einer vertieften Beziehung bei. Die ständige Vertretung bringt die bayerische Kultur den Tschechen nahe und umgekehrt. Sie war überfällig, aber aufgrund der Geschichte eben erst jetzt möglich.

Wie sehen Sie dabei ihre Rolle als bayerischer Abgeordneter?

Ich möchte diesen Prozess befördern, auch aus der eigenen Geschichte heraus. Mein Großvater und mein Vater sind Heimatvertriebene, mein Vater war sieben Jahre alt, wurde in Troppau geboren. Er hat an die Vertreibung sehr wache Erinnerungen. Das Mittagessen stand auf dem Tisch, und die Familie musste weg. Sie hatte eine halbe Stunde Zeit zu packen. Alle mussten sich auf dem Dorfplatz versammeln, und dann ging es auf den Treck. Auch der zweijährige Bruder meines Vaters war dabei. Was mich bewegt und angetrieben hat, ist mein Opa, der 1908 geboren wurde und 1994 gestorben ist. Er sagte am Ende seines Lebens immer wieder, er wolle "noch einmal die Heimat sehen". Aber dazu ist es nie gekommen. Er hat 40, 50 Jahre im Altmühltal gelebt, aber die Heimat blieb Troppau. Wenn man sich die Wunden dieser Menschen vorstellt, dann schlägt das auch Wunden in ein Land. Dass sie heilen und in der Zukunft keine neuen entstehen, deshalb setze ich mich für Aussöhnung ein.

Sie bedauern, sagten Sie einmal, dass in der Europapolitik die Mahner fehlten?

Viele, die noch erlebt haben, warum wir auf dieses gemeinsame Europa zusteuern wollen, sind nicht mehr am Leben. Ich habe da Max Mannheimer genannt, der den Holocaust überlebt hat, oder auch Hildegard Hamm-Brücher, die dem Widerstandskreis um die Weiße Rose angehörte. Auch Helmut Kohl muss man da unbedingt nennen. Diese Menschen, die erlebten, was es bedeutet, wenn der Nationalismus die Beziehungen zwischen Staaten und Menschen bestimmt. Die Erlebnisgeneration, die aus eigener Erfahrung weiß, warum wir dieses Europa brauchen, wie wichtig die europäische Idee ist, tritt ab. Die Generationen heute wissen das aus eigener Anschauung nicht.

Sie fühlen sich den Mahnern verpflichtet?

Ja, ich will das weitertragen. Als Dachauer Abgeordneter kann ich ja gar nicht anders. Wir haben auch hier die Frage, wie es weitergeht, wenn es die Zeitzeugen nicht mehr gibt. Wir haben in Dachau die Erinnerung an die Schrecken des Nationalsozialismus und die Konsequenzen, die daraus gezogen wurden. Die europäische Idee darf nicht durch kleingeistiges, nationalstaatliches Denken zerstört werden.

Die bayerisch-tschechischen Beziehungen stehen im Kontext eines gemeinsamen Europas?

Die grenzüberschreitenden Euregiones verbinden seit 1993 die Grenzregionen Tschechiens, insbesondere den Böhmerwald mit dem Osten Bayerns. Diese enge Beziehung hat sich auf ganz Bayern übertragen, das nun als Motor der europäischen Vereinigung wirkt. Nehmen Sie nur den Besuch der gesamten CSU-Landtagsfraktion im Mai in Prag, das hätte es früher nicht gegeben. Kurz davor, Ende April, war ich bei den Marienbader Gesprächen des Sudetendeutschen Rates, der sich als Förderer Europas versteht und für ein Zusammenwachsen mit Tschechien steht. Ich war mit anderen auf dem Podium - es war ein Austausch auf Augenhöhe. Gerade in Marienbad ist die lange Tradition europäischer Bäder mit Händen zu greifen, da merkt man die gemeinsame Geschichte.

Im politischen Alltag geht es aber doch hauptsächlich um die wirtschaftliche Dimension der Vereinigung?

Das eine schließt das andere nicht aus. Aber natürlich sind die Begegnungen zwischen den Menschen wichtig. Bayern ist da dran, da geht es auch um eine bessere Verbindung zwischen Prag, Nürnberg und München. Wenn man sich das jetzt anschaut: Von München nach Prag braucht man mit dem Zug sechs Stunden, das ist anachronistisch, für eine Strecke wie nach Frankfurt am Main oder Jena. Aber man muss bedenken: Der Eiserne Vorhang hat die beiden Länder bis 1989 getrennt. Erst in den Jahren danach hat man verstanden, wie nahe Prag doch eigentlich liegt, weiter westlich als Wien, was für eine schöne Stadt das ist, ein Zentrum europäischer Kultur.

Was, wenn bei den tschechischen Wahlen in dieser Woche der europafeindliche Rechtspopulist Andrej Babiš gewinnt?

Da wird am 21. Oktober sicherlich eine Weichenstellung vorgenommen. Premier Bohuslav Sobotka, der die Verbindung zu Bayern intensiv gelebt hat, kandidiert nicht mehr. Überall in Europa haben wir die Europaskeptiker. In Frankreich ist Le Pen nur knapp gescheitert, der Brexit, das Erstarken der AfD in Deutschland, das sind schon Fanale, die man ernst nehmen muss. Und gerade deshalb muss man an den Verbindungen zwischen Bayern und Tschechien weiterarbeiten. Ansonsten will ich mich in tschechische Innenpolitik nicht einmischen, nur einen Satz: Auch für Tschechien ist Europa wichtig, und ich hoffe, dass die Bevölkerung das einsieht.

Wenn nicht, nehmen dann die bayerisch-tschechischen Beziehungen Schaden?

Das werden die Wahlen zeigen, jetzt darüber zu sprechen, ist Kaffeesatzleserei. Aktuell sehe ich keine Anzeichen dafür, dass Tschechien sich in Europa isolieren wird. Falls dies doch passieren sollte, dann gibt es noch die neue und gute Nachbarschaft zwischen Bayern und Tschechien. Das Pflänzchen, das jetzt gewachsen ist, ist so robust, dass ich hoffe, dass man die Tschechen auf diese Weise wieder auf einen europafreundlichen Kurs bringen könnte. Denken Sie an den Auftritt des tschechischen Kultusministers Daniel Herman auf dem Sudetendeutschen Tag im Mai 2016. Dahinter kann man nicht mehr fallen. Dieser Aussöhnungsprozess wird weitergehen. Außerdem haben die Tschechen auch ein großes wirtschaftliches Interesse an einer guten Verbindung.

Wie erklären Sie sich die Renaissance rechtsnationalistischer Strömungen in Osteuropa?

Der europäische Gedanke hatte vielleicht noch nicht Zeit genug, um im Osten zu wirken. Anders als im Westen. Aber ich muss sagen, ich bin ratlos, was zum Beispiel Ungarn betrifft. Budapest war ein kulturelles Zentrum, Ungarn Stammland der habsburger Monarchie. Oder die Slowakei: Ich habe Silvester 1992 in Prag verbracht, habe die Trennung zwischen der Slowakei und Tschechien miterlebt. Gut, dachte ich, sie waren ja zwangsverbandelt, aber in einem großeren europäischen Zusammenhang werden sie wieder zusammenarbeiten. Das muss auch der Weg sein: dass selbstbewusste Nationalstaaten von sich aus Souveränitätsrechte an die supranationale EU abgeben, dann wächst Europa richtig. Aber warum der Nationalismus wieder erstarkt, das macht mich ratlos, auch weil Ungarn und die Slowakei eine gute wirtschaftliche Entwicklung genommen haben. Ich hoffe auf die Jugend. Sie ist für Europa eingestellt, in Großbritannien hat sie mehrheitlich dem Brexit abgelehnt. Wir haben auch in Marienbad einen "Rollback vom Rollback Europas" gespürt - einen Ruck pro Europa.

Welchen Ort in Prag mögen Sie besonders?

Denke ich an Prag, sehe ich vor meinem geistigen Auge immer den Altstädter Ring mit seinen Bürgerhäusern, dem Rathaus und dem Denkmal des Jan Hus, diesen geschichtsträchtigen Platz im Herzen Europas - die bayerische Repräsentanz ist übrigens nur ein paar Schritte entfernt.

Was sagen Sie einem Dachauer, warum gute Beziehungen zu Tschechien auch für ihn wichtig sind?

Keiner würde sagen, die Beziehung zu Österreich ist nicht wichtig oder zu Südtirol. Tschechien war halt bisher nicht auf der Liste. So wie man auch die neuen Bundesländer erst einmal kennenlernen musste, auch heute gibt es noch hin und wieder Ressentiments dagegen, vollkommen zu Unrecht. Von der Nähe profitieren wir alle, das gehört einfach dazu, um den Horizont zu erweitern, auch wenn man vielleicht keine böhmischen Knödel mag und kein wirtschaftliches Interesse hat. Prag gehört zu unserem Radius.

© SZ vom 17.10.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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