Bergkirchen:Vexierbild eines Lebens

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Eine großartige Schauspielerin spielt eine großartige Schauspielerin: Hildegard Krost mit Ansgar Wilk im Hoftheater Bergkirchen. (Foto: Niels P. Jørgensen)

Christopher Heins "Tilla" beschränkt sich auf die private Seite der großen Schauspielerin Tilla Durieux. Die Grande Dame des Theaters Hildegard Krost verleiht ihr auf fabelhafte Weise Gesicht und Stimme.

Von Dorothea Friedrich, Bergkirchen

Machen wir eine Zeitreise ins Jahr 1910. Dem Jahr, in dem die Schauspielerin Tilla Durieux den Berliner Kunstmäzen und Verleger Paul Cassirer heiratete. Hätte seinerzeit Christopher Heins Stück "Tilla" Premiere im Hoftheater Bergkirchen gehabt, hätte ein Kritiker womöglich an seine Zeitung telegrafiert: "Großartige Schauspielerin spielt großartige Schauspielerin." Und hätte sich voller Stolz auf die Frackhemd-gestärkte Brust geklopft. Zurück in die Gegenwart, ins Hoftheater am Samstag: Hildegard Krost, eine der großen alten Damen ihres Fachs, spielt - nein, sie ist - die Durieux in diesem zwischen Witz und Weisheit changierenden Psychogramm einer amour fou. Sie macht aus Bühnensätzen auf ihre unnachahmliche Art ein Credo echter Schauspielkunst, hinterfragt es im gleichen Moment und lässt es zu einem Aufschrei von Frauen werden, die sich zwischen Familie und Beruf zerrreißen: "Dieser verfluchte Beruf. Dieser verflucht schöne Beruf. Immer eine Rolle. Immer spielte ich etwas. Aber wo war ich? Wer war ich? Wo blieb ich in meinem Leben? Auf der Bühne konnte ich alles und im Leben nichts."

Sie konnte viel, die junge Tilla Durieux. Sie spielte die großen Klassiker an Berlins wichtigsten Theatern, war mit dem Kunstmaler Eugen Spiro verheiratet ("ein lieber Junge, durchaus begabt, aber er verkaufte nichts"). Dann trifft sie bei einer Abendveranstaltung Paul Cassirer, diesen genialischen Kunstversteher, der gegen den Widerstand Kaiser Wilhelms II. die großen Impressionisten nach Berlin holt. Namen, die wie Musik in den Ohren klingen: Renoir, Manet, Monet, van Gogh, Corinth, Barlach, Slevogt, Oppenheimer, Max Liebermann und all die anderen. Sie wurden von ihm gefördert, schrieben für seine Pan-Presse, gingen in seinem Kunstsalon ein und aus. Mittendrin Tilla Durieux, die vom Blitzschlag der Leidenschaft Getroffene. Sie mutiert zum Weibchen in dieser illustren Gesellschaft, kommt sich klein vor, macht sich klein, wird klein - obwohl sie zur meistgemalten Frau ihrer Epoche wird. Ihr anfangs so charmanter Geliebter wird zum arroganten, egomanischen Ehemann und Tyrannen: "Paul war ein Spieler, ein Manipulator, ein Menschverführer. Und er war sein eigener böser Bruder." Tilla versucht es mit Selbstoptimierung, will allem und jedem gerecht werden. Sie kämpft gegen Verunglimpfungen, gegen die Familie Cassirers, gegen sich selbst. Es folgen Burn-Out der Liebe, Scheidung und dramatisches Ende der Ehe.

Hilde Krost verleiht dieser Mischung aus bekannter Künstlerin und überangepasster Ehefrau vor den Augen des gebannten Publikums Person und Stimme. Sie ist die alte Staatsschauspielerin, die nach einer tollen Zeremonie von Politikern und ehemaligen Kollegen vergessen wird und einsam in der Garderobe ihren Erinnerungen nachhängt. Sie ist das junge Mädchen, das die Liebe auf den ersten Blick erlebt und fortan Paul Cassirer zum Lebensmittelpunkt macht. Sie ist die Frau, die 1933 vor den Nazis flieht, in Kroatien ein Hotel führt, sich mit Kaninchenzucht über Wasser hält, nach Deutschland zurückkommt und eine zweite Karriere startet. Und sie ist die Frau, die Frieden mit ihrer Vergangenheit schließt, die große Liebe auferstehen lässt (Ansgar Wilk als facettenreicher Paul Cassirer) und sich endgültig von ihr löst. Eine fantastische Leistung, an der Ulrike Beckers als Regisseurin, Ausstatterin und Stimme aus dem Off gebührenden Anteil hat. Das Tüpfelchen auf dem i ist die fast sinfonische Bühnenmusik von Max I. Milian mit ihrem Walzerthema. Max I. Milian ist ein Glücksfall für das Hoftheater. Welches Profi-Theater kann einen Hausmusiker dieser Güteklasse vorweisen?

Das Leben der Durieux hatte aber noch andere Seiten als die im Stück geschilderten. Schon 1907, als ihr Himmel noch voller Cassirer-Geigen hing, veranstaltete Durieux mit dem Musikpädagogen Leo Kestenberg sonntags Arbeiter-Matineen. 1919 unterstützte sie den Schriftsteller Ernst Toller, der als führender Vertreter der sogenannten Roten Armee nach der Schlacht um Dachau und dem Scheitern der Münchner Räterepublik wegen Hochverrats gesucht wurde. 1927 wurde sie zu einer finanziellen Förderin der Piscator-Bühne. 1930 heiratete sie den Unternehmer Ludwig Katzenellenbogen. Doch diese Ehe endete grausam. 1933 emigrierten die beiden. Es gelang ihnen nicht, auf Dauer ein sicheres Exil zu finden. Nach dem deutschen Überfall auf Jugoslawien wird Tillas jüdischer Ehemann 1941 verhaftet und stirbt im Konzentrationslager Sachsenhausen. Wann und wie hat Tilla Durieux nie erfahren.

© SZ vom 30.03.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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