Süddeutsche Zeitung

Behinderung:Barrierefreiheit in den Köpfen

Der Behindertenbeauftragte Hartmut Baumgärtner fordert einen Wandel in Politik und Gesellschaft: "Wir müssen vor allem die Barrieren in den Köpfen beseitigen, dann verschwinden sie auch auf den Straßen" Bis es soweit ist, sind auch Behindertenwerkstätten noch sinnvoll, sagt Annett Plank vom Franziskuswerk.

Von Jacqueline Lang

An die Wand hat der Beamer einen Vortrag projiziert, Theresia Schmitt-Licht von der Informations- und Servicestelle für Menschen mit Hörbehinderung (BLWG) referiert zum Thema "Barrierefreiheit für schwerhörige Menschen". Die gesellschaftliche Benachteiligung von schwerhörigen und anders behinderten Menschen ist das zentrale Thema für den Behindertenbeauftragten Hartmut Baumgärtner. Er ist für die Betroffenen in Stadt und Landkreis Dachau zuständig - und stellt einen positiven Wandel fest. Aber noch bleibt viel zu tun. In der Ecke tippt eine Frau fleißig in eine kleine Tastatur. Sie trägt eine schwarze Maske vor dem Mund, die an eine Gasmaske erinnert. Ihre Lippen bewegen sich, gleichzeitig erscheinen auf dem Bildschirm gelbe Buchstaben, die verschriftlichen, was Referentin Schmitt-Licht gerade erzählt. Was im ersten Moment für Außenstehende ein wenig komisch aussehen mag, ist ein wichtiges Utensil, um für gehörlose oder hörbeeinträchtigte Menschen simultan übersetzen zu können.

Hilfsmittel für behinderte Menschen wie die sogenannte Sprachmaske gibt es mittlerweile viele, erklärt Schmitt-Licht in ihrem Vortrag zum Tag des Hörens. Diese induktiven Höranlagen gibt es beispielsweise in einigen Kirchen im Landkreis, etwa in der Gnadenkirche, der Friedenskirche und der Heilig-Kreuz-Kirche in der Stadt Dachau oder auch im Pfarramt Sankt Anna in Karlsfeld. Mit solchen technischen Einrichtungen können für hörbehinderte Menschen in Veranstaltungsräumen Audiosignale vermittelt werden.

Gerade Schwerhörigkeit und Gehörlosigkeit gehören aber nach wie vor zu einer Form der Behinderung, die häufig nicht berücksichtigt wird, weil man sie, anders als bei einem Rollstuhlfahrer, nicht auf den ersten Blick zu erkennen vermag - dabei leben allein in Bayern schätzungsweise 150 000 Betroffene. Erst im Oktober wurden der Sozialministerin Kerstin Schreyer (CSU) knapp 13 000 Unterschriften mit der Forderung übergeben, im Freistaat ein Gehörlosengeld einzuführen. Mit dem Geld soll eine gesetzliche Versorgungslücke geschlossen und ein Anspruch auf eine Kostenübernahme für Gebärdensprach- und Schriftdolmetscher im Alltag erfüllt werden.

Doch nicht nur Gehörlose werden benachteiligt, auch andere behinderte Menschen müssen nach wie vor häufig um Unterstützung kämpfen. Hilfe bekommen sie von dem Behindertenbeauftragten Hartmut Baumgärtner, der wohlgemerkt im Ehrenamt tätig ist. "Wir müssen vor allem die Barrieren in den Köpfen beseitigen - dann verschwinden sie auf den Straßen von ganz alleine", sagt er.

Und tatsächlich verschwinden die Barrieren - auch in den Köpfen - Stück für Stück. Baumgärtner freut sich, dass er mittlerweile fast alle Bauanträge in der Stadt Dachau gleich nach erster Durchsicht absegnen kann. Vor allem das Dachauer Tiefbauamt sei mittlerweile sensibilisiert für das Thema Barrierefreiheit. Im Landkreis sei es etwas schwieriger, weil jede Gemeinde ihre "eigene Suppe kocht". Auch habe noch nicht jede der 17 Gemeinden einen eigenen Behindertenbeauftragten. Deshalb fehlen notwendige Anlaufstellen vor Ort. Das führt dazu, das selbst Menschen, die einen rechtlichen Anspruch auf Hilfe haben, keine bekommen - schlicht und einfach deshalb, weil sie nicht wissen, wie und wo sie die Hilfe beantragen können. Selbst in Fällen, die aus Sicht Baumgärtners eindeutig sind, muss häufig "nachgekartelt" werden.

Dennoch weiß Baumgärtner aus Gesprächen mit anderen Behindertenbeauftragten: Im Landkreis Dachau geht es Behinderten vergleichsweise gut. Einfach deshalb, weil die Dienstwege kurz sind und er die meisten Verantwortlichen persönlich kennt.

Beim Jahrestreffen der kommunalen Behindertenbeauftragten in Bad Gögging im September sei trotz aller positiven Entwicklungen dennoch eines klar geworden, sagt Baumgärtner: Bei vielen Beauftragten würden die Ressourcen in keiner Weise genügen, um den vielfältigen Anforderungen gerecht zu werden. In einer gemeinsamen Erklärung haben die Behindertenbeauftragten, darunter auch Baumgärtner, daher eine Vielzahl an Forderungen an die Staatsregierung gestellt, etwa eine angemessene Entlohnung sowie ein Rede- und Antragsrecht in den jeweiligen kommunalpolitischen Gremien.

Nicht nur Menschen mit einer körperlichen Behinderung, auch solche mit einer geistigen Behinderung sind aber auf Unterstützung angewiesen - und haben gleichzeitig ein Recht auf Selbstbestimmung. Genau das wollen Annett Plank und ihr Team vom Franziskuswerk Schönbrunn fördern. Anett Plank ist für Arbeit und Förderung tätig und kümmert sich unter anderem um die Koordination der Behindertenwerkstätten. Von den insgesamt 320 Beschäftigten arbeiten mittlerweile 64 an sogenannten ausgelagerten Arbeitsplätzen, davon wiederum 28 in der freien Wirtschaft.

Bei der Berufswahl seien die Bedürfnisse der behinderten Menschen entscheidend, sagt Anett Plank. "Wir wollen keine Pseudoarbeitsverhältnisse für die Statistik", betont sie. Gemeinsam mit qualifizierten Jobcoaches würden die Menschen mit Behinderung deshalb langsam an den jeweiligen Job herangeführt. Sie könnten ausprobieren, was für sie funktioniert und was nicht - ganz individuell, wie Anett Plank betont. Es gibt einen Wandel: Arbeitgeber seien inzwischen mehr bereit, diese Menschen auch entsprechend einzuarbeiten. Immer noch müssen Anett Plank und ihr Team aber Ängste abbauen - bei Behinderten, aber auch auf Seite der Unternehmen. "Meist hilft aber schon das gegenseitige Kennenlernen, die gegenseitige Offenheit", so Planks Erfahrung.

An den Werkstätten gibt es dennoch immer wieder Kritik. Sie seien ein Ort, an den Behinderte abgeschoben und schlecht bezahlt würden, sagen Kritiker. Anett Plank sieht das dagegen eher pragmatisch: "Die Vision, dass es die Werkstätten irgendwann nicht mehr braucht, finde ich gut, aber noch sind sie ein gutes Angebot unter vielen." Selbstverständlich müsse es das Ziel sein, möglichst viele Beschäftigten in sozialversicherungspflichtige Jobs zu bringen. Das ist aber nicht Aufgabe allein des Franziskuswerks. "Diese Verantwortung liegt nicht nur bei uns, sondern auch und vor allem bei der Gesellschaft und der Wirtschaft", sagt Anett Plank.

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Quelle:
SZ vom 11.12.2019
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