Süddeutsche Zeitung

Barrierefreiheit:Die größten Hürden sind in den Köpfen

Dass Menschen mit einer Behinderungen im Alltag häufig mit Schwierigkeiten zu kämpfen haben, sollte vor allem Ärzten bewusst sein. Stattdessen sorgen Praxen mit allerlei Barrieren für noch mehr Probleme.

Kommentar von Katja Gerland

Die alltäglichen Probleme von Menschen mit Behinderung sind Ärztinnen und Ärzten bewusst. Sollte man zumindest meinen. Die Mediziner haben schließlich eine jahrelange Ausbildung durchlaufen. Der Praxistest im Landkreis Dachau widerspricht dem jedoch fundamental: Viele Betreiber medizinischer Einrichtungen schreiben sich Barrierefreiheit auf die Fahnen und meinen damit lediglich den Aufzug, der zur Praxis führt. Dass es für Menschen mit Behinderung auch andere Hindernisse als eine Treppe gibt, wird entweder gekonnt ignoriert oder interessiert schlichtweg nicht. Und manche Praxisinhaber scheinen sich vollkommen den Bedürfnissen von Menschen mit Behinderung zu verschließen. Mit die größten Barrieren befinden sich ausgerechnet in den Köpfen von Ärztinnen und Ärzten.

Die Liste der schlechten Beispiele im Landkreis ist schier endlos: Ein Aufzug, der im Zwischengeschoss endet. Elektrische Türen, hinter denen sich eine nicht-elektrische Tür verbirgt. Praxen im Obergeschoss, die nur über Treppenstufen erreichbar sind. Das alles ist in und um Dachau im 21. Jahrhundert nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Die Bedürfnisse blinder und gehörloser Menschen werden oft erst gar nicht mitgedacht. Selbstverständlich gibt es auch vorbildliche Beispiele im Landkreis. Doch die machen die Ignoranz, die Menschen mit Behinderungen in vielen Fällen entgegengebracht wird, nicht wett.

Auch von Seiten der Politik kommt nicht viel mehr als Symbolik. Das Siegel "Barrierefreies Dachau", mit dem barrierefreie Einrichtungen gewürdigt und gleichzeitig ein Anreiz zur Nachahmung geschaffen werden soll, wurde erst kürzlich im Familien- und Sozialausschuss einstimmig beschlossen. Es ist ein kleiner Schritt in die richtige Richtung. Doch ein hübsches Siegel ändert nichts aktiv an der beschämenden Tatsache, dass nur etwa ein Drittel der Praxen im Landkreis barrierefrei sind. Solange Ärzte nicht mehr Solidarität zeigen und die Politik lediglich den Status Quo mit Siegeln zur Barrierefreiheit beschönigt, bleibt die Ausstattung der Arztpraxen im Landkreis schlichtweg eines: Diskriminierend für Menschen mit Behinderungen.

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Quelle:
SZ vom 17.11.2021
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