Süddeutsche Zeitung

Ausstellung im Dachauer Wasserturm:Veränderung, Verlust, Verleugnung

Silvia Kirchhof zeigt unter dem Titel "Über das Verschwinden" eindrückliche Fotokunstwerke, in denen die Wirkung gesellschaftspolitischer Kräfte sichtbar wird

Von Andreas Förster, Dachau

Katharina Sieverding im Schloss und Silvia Kirchhof im Wasserturm: Für Freunde der Fotokunst ist das eine wunderbare Duplizität der Ereignisse. Denn damit stellen gleich zwei politisch motivierte Foto-Künstlerinnen von Rang und Namen parallel in Dachau aus. "Das war durchaus beabsichtigt, als ich meine Ausstellung terminiert habe", gibt Silvia Kirchhof zu. Die seit zehn Jahren in Altomünster lebende und arbeitende Künstlerin hofft, dass die Sieverding-Besucher auf dem Rückweg auch nebenan bei ihr im Wasserturm vorbeischauen werden. Das sagt sie nüchtern und mit bescheidener Pragmatik, weiß sie doch, dass da ein Weltstar der Kunst in Dachau gastiert, von dessen Bekanntheit sie auch profitieren könnte. Warum auch nicht?

Kirchhofs verfremdete Fotografien sind ja ebenfalls recht beeindruckend, obwohl sie zehn- oder zwanzigmal kleiner sind. Das findet übrigens auch Dachaus Landrat Stefan Löwl, der sich nach seiner Rede zur Ausstellungseröffnung am Donnerstagabend gleich eines ihrer Werke sichert. Preislich werden die Kirchhof-Exponate mit den Werken von Katharina Sieverding wohl nicht mithalten können. Doch bei dem, was den Besucher im Wasserturm erwartet, steht der materielle Wert sowieso nicht im Vordergrund.

Es sind die Emotionen, die beim Eintauchen in den visuellen Kosmos von Silvia Kirchhof geweckt werden, die der Ausstellung ihren "Wert" verleihen. Emotionen, die sich schon mit dem ersten Bild ergeben, genannt "Federkleid". Dieses Werk ist das einzig bunte in der Ausstellung. Es stammt aus einem der Jugendprojekte, die sie regelmäßig an Schulen im Landkreis oder im Rahmen ihrer eigenen "School of Art" unternimmt. "Bei dem Projekt sollten die Schüler verkleidet kommen, und der hier zog sich an wie ein exotischer Vogel ..." Die besondere Wirkung ergibt sich hier, wie auch bei dem Bild daneben von einem sitzenden Jungen auf einem Barhocker mit hochgezogener Tauchermaske im Haar, aus der Mehrfachbelichtung und der mal mehr, mal weniger dezenten Farbgebung. Beide Collagen hätten in Schwarz-Weiß nicht so gut funktioniert, passen sich aber thematisch dem Titel der Ausstellung "Über das Verschwinden" an. Die Objekte im Bild sind als solche kaum noch erkennbar, sie verschwinden mehr und mehr hinter der Aussage, die das Bild symbolisch ausdrückt. Das Verschwinden der Vögel, das Verschwinden der Kindheit mit dem Erwachsenwerden, und, da wurde sie erst kürzlich wieder von der Realität eingeholt: Vom spurlosen Verschwinden junger Menschen wie der 15-jährigen Rebecca aus Berlin. Oder, mit Blick auf die Flüchtlinge: Menschen, die im Mittelmeer ertrinken. Es sind die scheinbar alltäglichen Geschichten, die Kirchhof faszinieren und die sie thematisiert: Wie die der Frauen, die als unsichtbare Obdachlose auf der Straße leben. Sie kleiden sich adrett, wollen nicht auffallen, schämen sich und existieren in der öffentlichen Wahrnehmung allenfalls als anonyme Dunkelziffer. Weitere Themen sind das "Unsichtbarwerden im Alltag" am Beispiel von älteren Menschen; die im Laufe der Jahre verblassende Erinnerung an geliebte Menschen oder der Verlust an Biodiversität in der Natur.

Am ausdrucksstärksten sind die Exponate, die auf ihren eigenen Familienfotos und den beeindruckenden Naturfotografien ihres Onkels basieren. Ihre ganze Familie väterlicherseits hatte eine ausgeprägte künstlerische Ader, die sich nicht selten in eindrucksvollen Fotos zeigte, erzählt Kirchhof. Die zauberhafte Natürlichkeit dieser qualitativ hochwertigen Aufnahmen überdauerte die Jahrzehnte unbeschadet, und wer das Glück hat, von der Künstlerin selbst etwas über deren Hintergrund zu erfahren, für den erwachen die zumeist schon verstorbenen Personen in den Porträts direkt wieder zum Leben.

Dass das leider nur eine schöne Illusion bleibt, wird vor allem bei den Naturaufnahmen ihres Onkels Hermann Kirchhof deutlich, die hinter getupften oder gestrichelten Linien verschwinden und somit im Gesamteindruck verblichen und seltsam sterblich wirken. Und das ist auch gut so, denn sonst hätten weniger gesellschaftspolitische Relevanz. Wer mehr über die Künstlerin und ihre aktuelle Ausstellung erfahren will, der kann sie noch bis zum 23. Juni immer freitags von 16 bis 19 Uhr sowie samstags und sonntags von 12 bis 18 Uhr im Wasserturm besuchen.

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Quelle:
SZ vom 08.06.2019
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