Süddeutsche Zeitung

Architektur der Neuen Mitte:Betonharte Realität

Nach jahrzehntelangen Planungen, wechselnden Besitzern und Investoren hat Karlsfeld endlich ein Ortszentrum. Beim Experten-Rundgang mit dem Dachauer Architekturforum zeigt sich, wie vielen Sachzwängen die Planer unterworfen waren. Entsprechend nüchtern sieht das Ergebnis aus

Von Christiane Bracht, Karlsfeld

Wer Karlsfelds Neue Mitte betritt, sieht vor allem viel Beton und hohe Häuser mit langen Fensterschlitzen, großen Balkonen und kaum Grün. Sogar die Fahrräder sind hinter Betonplatten versteckt. Farbe kommt nur durch die in Gelb- und Orange-Tönen angestrichenen Häuser in das neue Wohngebiet. "Was entstanden ist, kann man diskutieren", merkt der frühere Kreisbaumeister Georg Renoth vorsichtig an. Er ist einer von etwa 30 Interessierten, die sich trotz strömenden Regens und Kälte mit dem Architekturforum Dachau auf den Rundgang durch Karlsfeld begeben haben, um sich das Ortszentrum anzusehen, dessen Bau erst vor wenigen Monaten abgeschlossen worden ist. Der Vorsitzende des Architekturforums, Emil Kath, bremst: "Wir wollen nicht diskutieren, ob es schön ist oder nicht." Der Spaziergang, bei dem auch der Architekt der Neuen Mitte, Johann Spengler, vom Münchner Büro Steidle dabei ist, solle dazu dienen, Hintergründe zu erfahren und sich eine Meinung zu bilden.

Hat der Platz Aufenthaltsqualität?

Doch Kritik wird immer wieder laut, speziell als die kleine Gruppe zu dem kleinen Platz gegenüber von Edeka, Müller und Aldi kommt. "Glauben Sie, dass der Platz Aufenthaltsqualität hat?", fragt ein Teilnehmer den Planer. "Er muss natürlich bespielt werden", antwortet dieser. "Es sollte längst ein Restaurant an der Ecke eingezogen sein, das draußen ein paar Tische hat." Aber das Lokal steht leer. Die Mieten sind hoch. Volkshochschule und Bibliothek sollten ebenfalls in dem Komplex unterkommen, doch diese Planung sei "leider dem Rotstift zum Opfer gefallen", bemängelt er. Ein Neubau wäre der Gemeinde billiger gekommen, weiß CSU-Gemeinderat Wolfgang Offenbeck. "Das Grün zum Wohlfühlen fehlt", beklagt indes eine Frau. "Hätte man da nicht ein bisschen mehr Geld ausgeben und große Bäume hinsetzen können?" Der Platz ist komplett mit Betonplatten belegt, statt Sitzbänken muss man sich auf kalten Steinklötzchen niederlassen, die einigen Abstand zueinander haben. "Die Sitzkissen muss man selber mitbringen", sagt eine Seniorin aus der hinteren Reihe. Der Architekt geht nicht auf ihre Bemerkung ein. "Wir wollten ein Bild aus Stein auf dem Platz zeichnen", erklärt er. Doch man habe auf die Kostenbremse gedrückt. Sehr gelungen findet er "das Spinnennetz über dem Platz", in dem die Beleuchtung schwebt. "So kann man den Platz unten drunter nutzen", erklärt Spengler. Auch das Farbkonzept preist er an: "Es ist der Versuch, der Neuen Mitte eine Identität zu geben mit warmen bayerischen Farben, die positive Energie ausstrahlen." So habe man zusammen mit einem Künstler das Gelb der Theatinerkirche ausgewählt.

"Unser Leben ist kein Wunschkonzert"

Den lang gestreckten Glaskasten über dem Rolltreppenaufgang zu den drei Verbrauchermärkten empfinden mehrere Teilnehmer als störend. "Da ist doch schon ein breites Vordach oben drüber, warum muss noch eines hin?", fragt ein Mann. Die Gemeinde habe auf die mächtige Einhausung bestanden, um Wartungskosten zu sparen, erklärt Spengler. "Unser Leben ist kein Wunschkonzert." Überhaupt muss der Architekt an diesem Tag viel erklären.

"Das größte Problem bei der Planung war die Oberleitung der Deutschen Bahn, die sehr niedrig hängt, und unter der keine Wohnbebauung möglich ist", beginnt er seinen Vortrag. Alle Versuche diese Leitung unterirdisch zu verlegen seien gescheitert. Die Gemeinde hätte das mindestens einen "strammen siebenstelligen Betrag" gekostet. Zwei Gemeinderäte berichten, dass sich die Bahn geweigert habe, das Vorhaben überhaupt anzugehen. Das sei der Grund, weshalb man die Verbrauchermärkte dort situiert habe. Damit die Anwohner keine Lärmbelästigung haben, werden sie von hinten beliefert. Die Laderampe liegt sogar innen und die Kunden müssen in die Tiefgarage fahren, sodass sich auch der Verkehrslärm in Grenzen hält. Doch die Karlsfelder wissen bereits, dass die Tiefgarage nicht besonders gut angenommen wird. Gerade mal 20 Prozent der Plätze seien belegt. "Und der Edeka ist eigentlich immer leer", sagt jemand. Die meisten kauften nach wie vor an der Münchner Straße ein. Das Café dort sei auch immer voll, obwohl es direkt an der Hauptverkehrsachse liege.

Die Neue MItte hat wenig Wohnqualität

Die Neue Mitte hat eine lange Vorgeschichte: Verteilt über mehr als 40 Jahre gab es acht Entwürfe, drei Bebauungsplänen und viele langen Diskussionen im Gemeinderat. Wirtschaftliche Zwänge führten immer wieder zu Abstrichen. "Wir haben befürchtet, dass es hässlich wird", sagt Bündnis-Gemeinderätin Birgit Piroué, die früher in einer Bürgerinitiative gegen die neue Planung aktiv war. " Das hat sich jetzt bestätigt: Die Neue Mitte hat wenig Wohnqualität. Es kommt keiner hin. Es ist zu hoch, zu schattig und zu windig."

Immer wieder hört man, wie toll die Entwürfe von Architekt Werner Fauser in den Neunzigerjahren gewesen seien. "Aber dann war die Gewerbesteuer weg, deshalb ist sie kläglich gescheitert", sagt einer. Nicht alle gehen in ihrer Kritik soweit wie Piroué, aber die Enttäuschung ist spürbar: "Unter einem Platz stelle ich mir etwas anderes vor, er ist so kantig. Daran müssen wir uns erst gewöhnen", sagt Heinz Frisch aus Karlsfeld. "Aber ich glaube, mit der Zeit wird er angenommen. Warten wir erst einmal den Sommer ab."

"Das hätte nie kommen dürfen"

Doch schon taucht die Frage auf: Ist die Neue Mitte überhaupt das Zentrum? Klar ist, dass die Münchner Straße mit ihren riesigen Märkten eine sehr starke Konkurrenz ist. Schon bei der Planung war das einer der größten Konflikte. Ursprünglich sollte ein großer Anteil der Neuen Mitte aus Verkaufsflächen und Büros bestehen, berichtet Architekt Spengler. Doch dann habe die Gemeinde die Planungen für die Münchner Straße schneller vorangetrieben und im Nu standen dort ein großer Fachmarkt neben dem anderen. "Das hätte nie kommen dürfen", sagt Ex-Kreisbaumeister Rehnot. Die Gemeinde wollte eben die Gelegenheit nicht verstreichen lassen, Geld in ihre Kassen zu spülen. Einige große Firmen bekundeten Interesse, sich an der Pendlerachse niederzulassen. Und so beeilte man sich, die Wünsche zu erfüllen, erklärt der Architekt. Die ursprünglichen Planungen für die Neue Mitte funktionierten dann jedoch nicht mehr. Der Investor verlor sein Interesse. Man musste mehr Wohnungen genehmigen, erklärt Spengler.

Der Münchner Architekt war es übrigens auch, der den Media-Markt Komplex an der Münchner Straße geplant hat. Die Gemeinde hatte dem Multimedia-Riesen bereits zuvor große Versprechungen und Zugeständnisse gemacht, man wollte den Markt nicht weiterziehen lassen. Spengler sagt, seine Aufgabe habe darin gelegen, die "riesige Kiste" einigermaßen ansprechend zu gestalten. Er setzte die vielen Fenster in die Fassade, die an eine Petersburger Hängung erinnern und das Gebäude zum "Atmen" bringen sollen. Außerdem brachte er die großen Treppen an der Rückseite an, um Struktur in die gigantische Wand zu bringen. Im Volksmund heißt der Bau nur "Rote Meile", weil die großen Werbeschriften auf der Fassade alle rot sind. "Architektur ist streitbar", murmelt Renoth. Ein anderer in der Gruppe der Architektur-Interessierten bemerkt, dass der Media-Markt-Bau eigentlich noch der schönste an der Münchner Straße sei.

Einige Meter weiter in der Pfarrei der Kirche Sankt Anna ebbt die Kritik abrupt ab. Man hört nur noch ein begeistertes "Ah" und "Oh" über die lichtdurchfluteten Räume, dem geschützten Innenhof, in dem seit 2004 schon manch ein Gottesdienst gefeiert wurde. Auch die Gestaltung großer Aufenthaltsräume weckt das Interesse von Architekten und Bürgern gleichermaßen. "Es wirkt ein bisschen wie ein Kirchenschiff. Sehr gelungen", sagt eine Frau. Die Architekten des Pfarrheims sind stets umringt, beantworten alle Fragen geduldig. Sie erfahren viel Zuspruch an diesem Nachmittag. Doch eins ist auffällig: Beim Blick aus dem Fenster Richtung Neue Mitte sieht man noch immer viel freies Feld.

Der Wunsch, dass eines Tages die beiden Enden der Rathausstraße hier zusammengeführt werden, ist groß. "Es wäre schön, wenn der Kirchweg eines Tages bis hierhin verlängert wird und wir zu Fuß oder mit Fahrrad darauf fahren können", sagt auch Pfarrer Bernhard Rümmler.

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Quelle:
SZ vom 05.05.2017/lela
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