- Die alte Dame war an diesem Julitag nicht gerade rasant auf ihrem Fahrrad auf der Brucker Straße in Dachau unterwegs gewesen, schätzungsweise 15 Kilometer in der Stunde, heißt es im Unfallgutachten. Aber als keinen Meter entfernt vor ihr die Tür eines großen Oberklassewagens aufging, hatte sie keine Chance mehr auszuweichen. Sie hatte nicht mehr als 0,2 bis 0,5 Sekunden, um zu reagieren. So blieb sie mit der Pedale an der Autotür hängen, stürzte und musste schwer verletzt in eine Klinik gebracht werden. Zwei Wochen später war sie tot. Nun musste sich der Fahrer des Wagens, ein 66-jähriger Rentner aus Karlsfeld, vor dem Amtsgericht Dachau wegen fahrlässiger Tötung verantworten.
Der Angeklagte, so die Anklageschrift, hätte die Frau im linken Außenspiegel kommen sehen müssen - wenn er, wie das seine Pflicht war, hineingesehen hätte. Hat er aber nicht. "Ich klappe die Spiegel immer ein", erklärte der Mann, das gehe automatisch, wenn er den Zündschlüssel abziehe. Das sei die Werkseinstellung des Herstellers. "Es tut mir sehr leid." Richter Lars Hohlstein konnte sich über den Automobilbauer nur wundern. "Aus der Logik dieses Falls muss man feststellen, dass das nicht sinnvoll ist." Die Spiegel dürften sich erst einklappen, nachdem der Fahrer ausgestiegen ist, "alles andere ergibt keinen Sinn". Der Verteidiger erklärte, es könne doch nicht sein, dass sein Mandant sich strafbar gemacht habe, nur weil er die Werkseinstellungen eines Wagens damals noch nicht geändert habe, der vor dem Gesetz doch als verkehrssicher gelte.
"Bevor ich die Tür aufgemacht habe, habe ich über die Schulter geschaut, ich habe die Dame wirklich nicht gesehen", versicherte der Rentner. Davon geht auch der Unfallgutachter aus. Die Radlerin musste just in dem Augenblick von der breiten B-Säule der schweren Limousine verdeckt gewesen sein, als sich der Rentner anschickte, die Tür zu öffnen. "Sonst ginge es hier heute auch um einen ganz anderen Tatvorwurf", sagte Richter Lars Hohlstein.
Der Verteidiger griff das Verkehrsgutachten, auf das sich die Anklage stützt, als widersprüchlich an. So sei der Gutachter von einer Vielzahl von Prämissen ausgegangen, die ihm bei näherer Betrachtung ziemlich unrealistisch erschienen. Aus diesen Prämissen ist auch abgeleitet, wie weit der Angeklagte die Tür geöffnet hat - ein Detail, das in der Rechtsprechung solcher Fälle durchaus von Bedeutung sei.
Dem Wunsch des Verteidigers, das Verfahren einzustellen, konnte das Gericht dennoch nicht entsprechen. Die Vorgaben der Straßenverkehrsordnung seien eindeutig, sagte der Richter. Und zitierte: "Jegliche Gefährdung ist beim Aussteigen zu vermeiden." Dazu gehöre eben auch, in den Außenspiegel zu schauen, um den nachfolgenden Verkehr im Auge zu behalten - und nicht, ihn einzuklappen. Der Rentner hat nach eigenen Angaben die automatische Funktion an seinem Wagen mittlerweile deaktiviert.
Ein unvorsichtiger oder gar leichtsinniger Autofahrer scheint der Karlsfelder nicht zu sein. Ganz im Gegenteil. Der Verteidiger hob hervor, dass sein Mandant in den 44 Jahren, die er einen Führerschein besitzt, sich "nicht einmal ein halbes Pünktchen" habe zuschulden lassen kommen. "Er ist ein bewährter Kraftfahrer." Deshalb bat er auch, davon abzusehen, dem Mann die Fahrerlaubnis zu entziehen. Damit erklärte sich die Staatsanwältin einverstanden; im Gegenzug akzeptierte der Angeklagte die im Strafbefehl niedergelegten 90 Tagessätze Geldstrafe.
In seiner Urteilsbegründung sprach Richter Hohlstein abschließend von einer "Verkettung unglücklichster Umstände". Dass die Radlerin starb, habe letztlich wohl auch an ihrem hohen Lebensalter gelegen, "der Behandlungsverlauf hat sich nicht zum Positiven gewendet". Außerdem sei davon auszugehen, dass die alte Dame zu nahe an den geparkten Autos vorbeigefahren sei, sie also auch ein Mitverschulden an ihrem schweren Sturz gehabt habe. Das Urteil ist rechtskräftig.