Amtsgericht Dachau:Außer Kontrolle

"Scheißbullen! Ich hasse euch, verpisst euch!" Eine 19-Jährige rastet immer wieder aus - ihre Persönlichkeit ist offenbar schwer gestört.

Gregor Schiegl

- Kaum zu glauben, dass es fünf Beamte gebraucht haben soll, um dieses zierliche Mädchen festzunehmen. Manchmal verzieht die 19-Jährige das Gesicht, als müsse sie gegen Tränen ankämpfen. Aber sie weint nicht. Sie hat alles unter Kontrolle. Zumindest jetzt mit der Betreuerin zur Linken und dem Anwalt zur Rechten.

Das Jugendschöffengericht unter Vorsitz von Richter Lars Hohlstein hat eine lange Liste von Vorwürfen abzuarbeiten: In einer Behindertentoilette zündet die Angeklagte im Mai 2011 den Handtuchhalter an, Schaden 300 Euro. Nach dem Indersdorfer Volksfest steckt sie morgens um halb fünf einen Kleider- und einen Schuhcontainer in Brand, Schaden 5000 Euro, durch den Ruß entstehen an der Fassade des benachbarten Supermarkts weitere 7000 Euro Schaden. Wenige Tage später lässt sie einen Papiercontainer in Flammen aufgehen, Schaden 4500 Euro. Sie gesteht es.

"Was empfinden Sie, wenn Sie das tun?", fragt der Staatsanwalt. Die Angeklagte zögert. "Nichts Angenehmes: Wut, Aggression, alles." Eine junge Polizistin kennt eine andere Version. "Brände haben sie fasziniert", sagt die Beamtin aus. "Sie hat mir gegenüber auch dieses Wort benutzt: Faszination. Sie liebt Feuer."

Eines Abends läuft die Angeklagte auf der Münchner Straße einem Italiener vors Auto. Sie zertrümmert mit einer Flasche die Windschutzscheibe, Schaden 500 Euro. Dann trommelt sie schreiend auf den Wagen einer Ärztin und reißt die Scheibenwischer ab. "Es war schrecklich", sagte sie, "ich hatte das Gefühl, dass es diesem Menschen nicht gut geht." Die Angeklagte war nur leicht angetrunken. Trotzdem hat sie nur noch bruchstückhafte Erinnerungen. Psychischer Ausnahmezustand.

Drei Tage vor Weihnachten rückt die Polizei erneut aus. Passanten hatten die Beamten alarmiert, eine junge Frau schreie in der Altstadt herum, sie sei von ihrem Vater vergewaltigt worden. Als sie eintreffen, finden sie die Angeklagte weinend an eine Mauer gelehnt. Alle Versuche der Beamten, Kontakt mit ihr aufzunehmen, scheitern. "Scheißbullen!", schreit sie sie an. "Ich hasse euch, verpisst euch!" Einem Beamten tritt sie gegen das Knie, dann geht sie mit bloßen Fäusten auf das Polizeiauto los. Die Streife muss Verstärkung rufen. Selbst als sie die Frau zu Boden gerungen und an Armen und Beinen gefesselt ist, spuckt, beißt und kratzt sie noch. Eine Durchsuchung erscheint den Beamten als zu gefährlich. Doch in der Zelle hat sie auf einmal ein Tapeziermesser in der Hand. Sie droht, sich und ihre Familie umzubringen. Die Angeklagte wird in die Psychiatrie gebracht. Suizidgefahr.

Ihre Kindheit muss ein einziger Albtraum gewesen sein: Der Vater ist Alkoholiker und vergeht sich immer wieder an ihr und den vier Geschwistern und schlägt die Mutter. Immer wieder ist die Polizei im Haus. "Aber die Polizei hat nie geholfen", sagte die Jugendgerichtshelferin, "da ist der Hass auf die Polizei fast verständlich." Erst nach mehreren Knochenbrüchen findet die Mutter die Kraft sich zu trennen. Die Angeklagte trinkt, seitdem sie zwölf ist. Eine richtige Ausbildung hat sie nicht, sie ist arbeitslos. Der Gutachter attestiert ihr "unterdurchschnittliche Intelligenz".

Und dann ist da noch dieser Selbstzerstörungsdrang, "schwere Borderline-Persönlichkeitsstörung", sagt der Gutachter: Die Unterarme der Angeklagten sind übersät von Narben. Sie verletzt sich selbst, absichtlich. Sie hat eine Therapie begonnen, das habe sie stabilisiert, meint die Betreuern. Aber erst vor zwei Wochen hat sie sich so tief in den Oberschenkel geschnitten, dass sie stationär behandelt werden musste. Das Gericht geht von einer "stark verminderten Schuldfähigkeit" aus. Das Urteil: zehn Monate auf Bewährung.

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