Süddeutsche Zeitung

Amper-Klinikum Dachau:Wenn Medikamente allein nicht helfen

Bernhard Arnold hat die multimodale Schmerztherapie am Helios Amper-Klinikum aufgebaut. Die Behandlung geht von der Erkenntnis aus, dass chronische Schmerzen nicht nur körperliche, sondern auch psychische und soziale Ursachen haben

Von Lina Brückner

Knochenbrüche, blaue Flecken, Zahnweh - das sind Schmerzen, die jeder kennt. Meist sind sie mit mehr oder weniger starken Medikamenten auszuhalten. Doch bei chronischen Schmerzen schlägt eine herkömmliche Behandlung nicht an. Die Erkrankten benötigen eine weitreichendere Betreuung als die rein körperliche, symptomatische Behandlung. Effizient ist die sogenannte multimodale Schmerztherapie, eine Kombination aus physischem und psychischem Ansatz. Als eine der ersten Kliniken hat das Helios Amper-Klinikum 1999 mit dem Konzept der multimodalen Schmerztherapie begonnen. Seitdem ist Bernhard Arnold, ursprünglich Anästhesist, die treibende Kraft hinter dem Aufbau der Schmerztherapie und eine Koryphäe, deren Wirken über das Klinikum weit hinausreicht.

Die Liste seines Engagements ist lang: Arnold ist Mitglied bei zahlreichen schmerztherapeutischen Organisationen, Ehrenmitglied des Berufsverbands der Schmerztherapeuten in Deutschland und wurde bereits 14 Mal mit dem Ärzte-Siegel ausgezeichnet. Dieses Jahr ist er in seinem Fachgebiet der Top-Mediziner in der Ärzteliste des Magazins Focus. Zur Schmerztherapie sei er eher zufällig geraten, meint der Chefarzt des Dachauer Klinikums. In seiner Zeit als Anästhesist in München-Neuperlach ab 1982 sei er bei einem Patienten mit Phantomschmerzen "als der dafür Zuständige verstanden worden", erzählt er heute. Von 1993 an hat Arnold in München-Neuperlach die Schmerztagesklinik als Modellprojekt des Bayerischen Sozialministeriums aufgebaut. Arnold erinnert sich, es habe tatsächlich einen Zeitpunkt gegeben, an dem er gemerkt habe, dass die Schmerztherapie seine Berufung sei. Ende der Achtzigerjahre sei ihm bewusst geworden, dass Karzinompatienten "sehr viel mehr Bedarf als die rein medikamentöse Schmerzkontrolle haben". Damals kursierte noch die Meinung, man dürfe einem Betroffenen nicht sagen, dass er Krebs hat. Heute sagt Arnold, das sei sein Schlüsselerlebnis gewesen. Als einer der ersten hat er erkannt, dass der langfristige Umgang mit Schmerzen eine interdisziplinäre Frage der Lebensführung ist. Angeeignet hat sich der Mediziner sein Wissen als Autodidakt - heute gibt es eine eigene Ausbildungsrichtung. Trotzdem herrscht laut Arnold unter Ärzten immer noch Unverständnis darüber, dass chronische Schmerzen kein rein körperliches Problem sind.

Ein chronischer Schmerz hat keine Mindestdauer. Er wird zu einem eigenen Krankheitsbild, das sich auf alle Lebensbereiche auswirkt. So etwa auf die berufliche Situation, wenn sich der Erkrankte um seine Anstellung sorgen muss. Bei einer Verletzung am Arm, durch die das Schreiben dauerhaft beeinträchtigt wird, kann die Erkrankung auch aus weniger bedeutsamen körperlichen Beschwerden resultieren. "Ab einem bestimmten Alter hat jeder Mensch ein chronisches Schmerzproblem", behauptet Arnold. Auch er selbst leide an Rückenschmerzen. Der Unterschied zu einer chronischen Schmerzerkrankung: Diese ergibt sich aus einer Wechselbeziehung zwischen Körper, Seele und Sozialem. Arnold erklärt, gewöhnliche Schmerzen ließen sich durch eine Verhaltenssteuerung, etwa eine Belastungsänderung, ertragen. Doch wenn er nicht Arzt, sondern Gärtner wäre, hätten die Rückenschmerzen wesentliche Auswirkungen auf seine gesamte Gesundheitslage: "Dann wäre ich nach einigen Wochen so verzweifelt, dass ich Unterstützung bräuchte."

Arnold erklärt, einer Schmerzerkrankung vorzubeugen sei eine "schwierige Angelegenheit", regelmäßig körperlich aktiv zu sein und Anspannungssituationen zu vermeiden, sinnvoll. Ursache seien zudem dysfunktionale Verhaltensweisen, also Vermeidungs- und Überforderungsverhalten sowie Katastrophisieren, die bereits in der Kindheit erlernt würden und den Schmerz schlimmer machten, als er tatsächlich ist. Arnold sieht die chronischen Schmerzen klar in einem gesellschaftlichen Zusammenhang. Psychische und soziale Probleme wie Burnout und Mobbing würden häufig von diffusem Ganzkörperschmerz begleitet. Das Krankheitsbild sei vermehrt in den niedrigeren Lohnklassen, wo massiver Leistungsdruck herrsche und die Arbeiter häufig "unmittelbar in starre Abläufe eingebunden" seien, verbreitet.

Genauso umfassend und vielschichtig wie das Krankheitsbild muss auch dessen Behandlung sein, so ein Ansatz der multimodalen Schmerztherapie. Mit hohem Zeitaufwand sei es notwendig, die "Krankengeschichte von vorne aufzurollen" - ansonsten verbessere sich das Ergebnis der vorangegangenen, erfolglosen Behandlungen nicht, meint Arnold. Ein Problem der Betroffenen sei häufig der sogenannte unsichtbare Schmerz. Der Arzt weist darauf hin, dass das Umfeld etwa bei einem gebrochenen Arm besorgt reagiere, wogegen Rückenschmerzen oft nicht ausreichend wahrgenommen würden - und da schließt er die Mediziner nicht aus. In der Schmerztherapie komme es deswegen primär darauf an, die Menschen ernst zu nehmen. Laut Arnold ist der zweite Schritt, den Betroffenen Zeit zu geben, ihr tatsächliches Problem zu schildern. Um eine "Therapie aus einem Guss" vermitteln zu können, sei es zudem notwendig, dass sich das Team regelmäßig austausche. Die Psychotherapie müsse etwas langsamer als die körperlich-medikamentöse Behandlung erfolgen, damit die Patienten die Gespräche verarbeiten können. Ziel der Schmerztherapie ist laut Arnold vor allem, dass die Patienten lernen, mit ihren Schmerzen umzugehen, anstatt sie unbedingt beseitigen zu wollen. Um das zu erreichen, müsse der betreuende Mediziner querdenken. Arnold meint, das lerne man in keinem Lehrbuch, sondern brauche "alltagsnahe Findigkeit".

Bernhard Arnold erkennt auch die Herausforderungen in der Schmerztherapie: "Generell wäre es hilfreich, wenn es sehr viel mehr Schmerztherapeuten geben würde". Der Mangel liegt auch an der allgemeinen Stellung der Schmerztherapeuten. Arnold erklärt, ein Arzt brauche eine Zusatzausbildung, verdiene letztlich aber weniger Geld. Trotzdem glaubt er daran, dass sich die Schmerztherapie in Zukunft etablieren wird. Auch, weil "die großen Arbeitgeber eher verstanden haben als die Krankenkassen", dass der wirtschaftliche Nutzen einer Schmerztherapie den Kostenaufwand deckt. Denn laut einer Studie, die Arnold durchgeführt hat, können 65 Prozent der Patienten mit chronischen Schmerzen wieder an ihren Arbeitsplatz zurückkehren. Danach werde allerdings der Fehler gemacht, die Betroffenen nicht angemessen zu rehabilitieren. Allgemein sei es ein berufspolitischer Kampf gewesen, um überhaupt Einfluss in der Medizin zu gewinnen. Und weil die Schmerztherapeuten eben eine Minderheit seien, halte sich dieser bislang gering, meint Arnold.

Wegen der individuellen Beratung, der menschlichen Zuwendung und der Sicherheit, welche seine Patienten im Laufe der Therapie gewinnen, sei die multimodale Schmerztherapie im Amper-Klinikum so erfolgreich, sagt der Chefarzt. Ob er sich noch etwas anderes als die Schmerztherapie in seinem Berufsleben vorstellen kann? "Im Grunde bin ich ein Vollblutmediziner", lacht Arnold. Doch er möge es eben, "außerhalb eingetretener Pfade manchmal detektivisch tätig zu sein".

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Quelle:
SZ vom 03.12.2019
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