Zur Einsicht ist es ein langer Weg: Etwa eineinhalb Stunden dauert die Verhandlung vor dem Amtsgericht Dachau, doch erst Minuten vor der Urteilsverkündung nimmt der Angeklagte seinen Einspruch zurück. Gegen eine Geldauflage von rund 800 Euro wird damit das Verfahren wegen Nötigung im Straßenverkehr eingestellt, und der Paketzusteller darf seinen Führerschein behalten. „Weil bald Weihnachten ist“, scherzt Richter Stefan Lorenz zum Abschied.
Der Angeklagte war Anfang September mit dem Lieferfahrzeug eines großen Online-Versandhändlers auf der Weiler Straße bei Altomünster unterwegs, auf dem Beifahrersitz saß seine Freundin. Soweit jedenfalls ist die Sache unstrittig. Unstrittig ist auch, dass der 29-Jährige an diesem Tag einen Traktor samt Gülleanhänger überholt hat – mit dem Ergebnis, dass das Gespann nach dem Überholvorgang in den Kleintransporter gekracht ist. Allein, wie es dazu kommen konnte, darüber gehen vor Gericht die Meinungen auseinander.
Verletzt wurde niemand
Der Paketzusteller, der im Landkreis Augsburg lebt, sagt aus, sein Seitenspiegel sei durch das leichte Ausscheren des Traktorgespanns während seines Überholvorgangs eingeklappt worden. Durch lautes Hupen habe er den Traktorfahrer darauf aufmerksam machen wollen. Nachdem er vor dem Fahrzeug eingeschert sei, habe er die Warnblinkanlage angeschaltet und zudem langsam gebremst, um den Fahrer des Gespanns zum Anhalten zu bewegen. Er habe mit ihm nachschauen wollen, ob durch die Berührung beider Fahrzeuge ein Schaden entstanden sei. Zu spät habe er gemerkt, dass der Traktorfahrer keine Anstalten machte, ebenfalls zu bremsen. Um eine Kollision zu verhindern, habe er noch versucht, wieder zu beschleunigen, so der 29-Jährige. Doch es war zu spät.
Ein klärendes Gespräch mit dem Traktorfahrer habe vor Ort nicht stattgefunden, erzählt der Angeklagte. Auch die Polizisten, die nach einer halben Stunde eingetroffen seien, hätten ihn zum Unfallhergang nicht befragt. Die Beamten hätten ihm lediglich mitgeteilt, dass der Traktorfahrer keinen Strafantrag stellen wolle. Für ihn sei die Sache damit erledigt gewesen. Von Nötigung, wie sie ihm nun die Staatsanwaltschaft vorwirft, könne jedenfalls keine Rede sein. Darauf besteht der Angeklagte – und damit begründet er auch seine Weigerung gegen die Geldauflage, mit der das Verfahren eingestellt worden wäre.
„Ich hatte keine Nötigungsabsicht.“
Richter Lorenz stellt viele Fragen. Er will genau verstehen, was zu dem Unfall geführt hat. Der Angeklagte wiederholt dabei immer wieder, dass er den Traktorfahrer, einen 22-jährigen Mann aus dem Landkreis Aichach-Friedberg, zum Anhalten bewegen wollte. Was er dabei nicht zu begreifen scheint, obwohl Richter Lorenz mehrmals versucht, es ihm begreiflich zu machen: Allein damit erfüllt er den Tatbestand der Nötigung – ganz egal, ob er es einsieht oder nicht.
Sollte sich herausstellen, dass er den 22-Jährigen nicht nur zum Anhalten genötigt, sondern gar einen Auffahrunfall provoziert habe, warnt Richter Lorenz weiter, könnte er seinen Führerschein für sehr lange Zeit verlieren. Ob er angesichts dessen nicht doch seinen Einspruch zurückziehen wolle? Der Angeklagte aber bleibt dabei: „Ich hatte keine Nötigungsabsicht.“
Immerhin: Dass der Paketzusteller absichtlich einen Zusammenstoß herbeiführen wollte, davon geht der Traktorfahrer nicht aus. Er sagt vor Gericht aus, dass der Angeklagte schon vor dem tatsächlichen Überholmanöver einige Versuche unternommen habe, an ihm vorbeizufahren. Mit Lichthupen habe er ihm zudem zu verstehen gegeben, dass er Platz machen solle. „Aber wo soll ich hin mit meinem Gespann?“ Schließlich, so sagt es der 22-Jährige, sei der Kleintransporter an ihm vorbeigezogen, sei direkt vor ihm eingeschert und habe dann eine Vollbremsung vollzogen. Auch er sei daraufhin in die Eisen gestiegen, doch keine Chance – gut 20 Tonnen, die bringt man nicht mal eben zum Stehen.
Richter Lorenz lässt wenig Zweifel daran, dass er den Aussagen des Paketzustellers und dessen Freundin weniger glaubt als den Angaben des Traktorfahrers. Um ihm klarzumachen, was dem 29-Jährigen bei einer Verurteilung drohen könnte, lässt er sich von ihm sogar den Führerschein aushändigen. Bis zuletzt zeigt sich der Mann auf der Anklagebank jedoch uneinsichtig.
Die Staatsanwaltschaft fordert schließlich, den Angeklagten zu einer Geldstrafe von 3600 Euro zu verurteilen und seinen Führerschein für acht Monate einzuziehen. Sie sieht den Tatbestand der Nötigung als erwiesen an. Nun wäre es eigentlich an Richter Lorenz, sich ein Urteil zu bilden und dieses zu verlesen. Bevor er dies tut, fragt er den Angeklagten jedoch noch ein allerletztes Mal, ob dieser wirklich den Einspruch aufrechterhalten will. Und siehe da: Das will der Paketzusteller nicht, zumindest nicht zum Preis seines Führerscheins. Den händigt ihm Richter Lorenz mit der Einstellung des Verfahrens wieder aus, und statt 3600 Euro muss er nun nur noch 800 Euro an den Arbeiter-Samariter-Bund überweisen.

