Die Frage stellt sich: Wie kommt es eigentlich dazu, dass die Bigband Dachau, diese glitzernde, elektrifizierte Untersektion der Dachauer Knabenkapelle, mit dem renommierten finnischen Künstler und Multiinstrumentalisten Jimi Tenor eine CD aufgenommen hat? Ein Stück weit sind daran Bigband-Schlagzeuger Jan van Meerendonk und die Süddeutsche Zeitung schuld. 2003 reiste Meerendonk als frischdekorierter Abiturient zum Jazzfestival nach Montreux - und erlebte dort einen grandiosen Jimi Tenor. Es waren Love-Vibrations ab der ersten Sägezahnschwingung aus dem Moog-Synthesizer, die Meerendonk nie wieder losließen.
Eineinhalb Jahrzehnte später erspielte sich eine gewisse Bigband Dachau mit antörnendem Jazzelektrofunkbigbandrock 2018 einen Tassilo-Preis der Süddeutschen Zeitung. Mit dem Preisgeld könne man sich doch einen feinen Workshop gönnen, meinte der Vorstand der Knabenkapelle. Absolut, und zwar mit Jimi Tenor, meinten Meerendonk und sein Bruder Oliver, Bigband-Gitarrist und mittlerweile ebenfalls vom Tenor-Virus infiziert. Sie fassten sich ein Herz, und es gelang ihnen tatsächlich, Tenor anzusprechen, als der in München gastierte. Und was sagte der? Ist ja reizend, übt mal schön Eure Tonleitern? Er sagte zu.
Der Rest war unaufhaltbare chemische Reaktion. Chemie zwischen einem großen, experimentierfreudigen Musiker und einem jugendlichen Ensemble, das unter der Leitung seines hingebungsvollen Dirigenten und Dompteurs Tom Jahn über sich hinauswachsen kann: Gemeinsam mit Tenor einen Workshop zu absolvieren und ein Konzert mit Kompositionen aus dessen Feder anzuberaumen wie jenes am 20. Oktober 2019 im Stadttheater Landsberg am Lech ist das eine. Dabei fürs eigene Bigband-Poesiealbum ein Band mitlaufen zu lassen - versteht sich. Aber dann (und das ist das andere) geschieht etwas, was so womöglich nur Menschen erleben dürfen, die gemeinsam musizieren. Auf ganz wunderbare Weise fügen sich die Dinge ineinander, Details, die zuvor noch schwerfielen, gelingen, Glücksmomente, die perfekte Welle, der Beat - hat noch nie so gestampft wie jetzt in diesem Moment, das Gitarrensolo - so expressiv wie heute hat es noch nie geklungen, die Bläserriffs - wann haben wir die je so perfekt hinbekommen! Jimi Tenor spürt es, die Dachauer Musikerinnen und Musiker spüren es, das Publikum spürt es. Was als Auftritt begann, wird ein großer Abend; was als Erinnerungsmitschnitt gedacht war, wird ein Tondokument der musikalischen Energie: die CD "Bigband Dachau feat. Jimi Tenor. Live at Stadttheater Landsberg", die am Freitag, 16. April, bei Südpolrecords erscheint.
"Nuclear Fusion" ist deshalb der ideale Auftakt: das Maximum an Energie, ein brachialer Cluster als erstes Statement - wie das eröffnende Klanggewitter von "Deep Purple In Rock", klanggewordene Gefahr wie von "The Jazz Composer's Orchestra". So beginnt eine ausdrucksstarke Platte. Und ein herrliches Stück Retro-Musik, wie schnell klar wird, wenn Jimi Tenor in die Tasten seiner Hammond-Orgel und seines Synthesizers greift oder das Photophon bedient, seine instrumentenbautechnische Eigenkreation auf Basis eines alten Ventilators, und sich die elektrischen Klänge mit dem Bigbandsound vereinen.
Ist alles an dieser Platte perfekt? Natürlich nicht, das wäre ja auch langweilig. So stellt man sich beim zweiten Song, "Strawberry Place", zwar gerne eine geheimnisvolle Waldlichtung vor, auf der süße Walderdbeeren sprießen (wie in den charmanten Videos empfohlen, mit denen die Bigband-Saxofonistin und Moderatorin Birgit Tomys im Internet Werkeinführungen gibt), kann sich dennoch nicht des Eindrucks erwehren, dass Tenors Gesang nicht an sein Instrumentalspiel heranreicht. Zugleich aber steht der Song für die gelungene Dramaturgie der CD. Denn wo Kernfusion stattfindet, da braucht es Abklingbecken. Man findet sie auch in den subtilen Elektrokulissen von "Order of Nothingness" und in der sanften, sphärenimpressionistischen Melodik von "Call of the Wild", aus der die samtige Stimme des Bigband-Sängers JJ Jones erwächst. Doch es brodelt noch. Nach einem furiosen Crescendo im immer härter überblasenen Saxofonsolo von Jimi Tenor entlädt sich "Call of the Wild", großartig arrangiert, in einem Forte, in dem Jones endgültig beweist, wer hier der Sänger unter den Singenden ist.
Demgegenüber entfalten als Kontrast auch simpel kreisende Ostinati ("Ghost Warrior"), heftiger Elektropuls ("Sugardaddy"), brachiale Rockgitarren- und Bläserriffs (in der herrlichen Nummer "Trumpcard", bei deren Namen nur ein übersetzungsschwacher Schelm denken würde, dass sie grandioses Getöse um ein einfaches Ideenzentrum entfacht) und sinnesbetörender Techno ("Take me Baby") Wirkung. Mit welcher Präzision die junge Dachauer Band - in diesen Momenten mehr "Ensemble Modern" als Ensemble eines Blasmusikvereins - sogar durch vertrackteste Unisonoskalen rast ("Tapiola"), ist beeindruckend. Am Ende kulminiert "Take me Baby" als Finale des Kernprogramms in einer letzten hymnischen Entladung. Der Stilbruch von Tom Jahns Komposition "Club Edition" mit ihrer La-Brass-Banda-Spielfreude ist dazu der ideale Epilog. Wer diese Reminiszenz an die Klangexplosion des Anfangs als idealen Abschluss des Spannungsbogens empfindet, drücke nun auf Pause. Wer ein ruhiges Nachspiel bevorzugt, höre sich den Bonus-Track "Beyond the Stars" gleich an.