Dachau:"Kein Ort für Predigten"

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Was ist echt, was ist rekonstruiert? Auch diese Frage treibt Jugendliche um - wie hier in der als "Brausebad" getarnten Gaskammer in Dachau. (Foto: Peter Kneffel/dpa)

Björn Mensing begleitet Schüler und Konfirmanden durch die KZ-Gedenkstätte. Er weiß, wie man bei ihnen das Interesse für Zeitgeschichte weckt.

Von Martin Bernstein

Martin Kieselstein war 18, als er ins Konzentrationslager Dachau gebracht wurde, 19, als ihn die Amerikaner dort befreiten. Der heute 90-jährige Arzt und Künstler lebt in Israel. Und doch vergeht keine Woche, in der er nicht Schulklassen durch die KZ-Gedenkstätte Dachau begleitet. Natürlich nur indirekt: Der Pfarrer und promovierte Historiker Björn Mensing von der evangelischen Versöhnungskirche schildert das Schicksal des einstigen Häftlings, mit dem er seit Jahren befreundet ist, und von dessen drei Jahre jüngerer Schwester, wenn er Schüler durch die Gedenkstätte führt.

Schulklassen und Konfirmandengruppen durch den Erinnerungsort zu begleiten, das ist seit zehn Jahren eine der Hauptaufgaben des Pfarrers. Er weiß, wie man das Interesse von Jugendlichen an Zeitgeschichte weckt und hochhält. Und was man unbedingt vermeiden sollte. "Ich sehe ja in die Gesichter", sagt Mensing. Und er verrät damit eine zentrale Anforderung an erfolgreiche Gedenkstättenpädagogik: Der unmittelbare Kontakt sei wichtig, Jugendliche spürten sofort, wenn sie Erläuterungen von der Stange bekämen. Dann reiße das Interesse ab. Doch wie schafft er es, dass Jugendliche zwei, zweieinhalb Stunden bei diesem Thema aufmerksam bleiben? "Uns gelingt das nie", erzählen ihm manche Lehrer ein bisschen neidvoll.

Dass junge Leute genervt oder gelangweilt abwinken, wenn es um die NS-Zeit geht: Das ist ein gern kolportiertes Vorurteil. Mensing kann es überhaupt nicht bestätigen. Man dürfe die 15-, 16-Jährigen nur nicht überfordern, sagt er. Wenn die Jugendlichen gleichzeitig eine Fülle an Fakten verarbeiten, emotionale Betroffenheit entwickeln und dann am Besten auch noch etwas für ihr eigenes Verhalten lernen sollen - dann kann das nicht gut gehen.

Jugendliche hätten feine Antennen dafür, wenn ihnen unterschwellig Schuldgefühle vermittelt werden sollen, weiß Mensing. Im vergangenen Jahr besuchten nach Auskunft von Pressesprecher Michael Haas mehr als 7000 Schulklassen im Rahmen von Führungen die Gedenkstätte. Die meisten Klassen kommen aus der neunten Jahrgangsstufe. Die jungen Leute, so Haas, "sollten nach Möglichkeit auch emotional auf diesen Ort vorbereitet sein"". Mensing hält nichts davon, an die Schüler zu appellieren, dass sie nach dem Besuch der Gedenkstätte sensibel für Phänomene wie Mobbing, Ausgrenzung, Gruppendruck sein müssten. Dieser Transfer müsse von den Jugendlichen selbst ausgehen - oder eben nicht. "Das ist kein Ort für Predigten", sagt der evangelische Pfarrer.

Nichts interessiert mehr als das Leben anderer Menschen. Deshalb arbeitet Mensing mit Biografien

In der Geschichte des Siebenbürger Juden Martin Kieselstein stecken alle Elemente, die Mensing für wichtig hält, um Jugendliche erreichen zu können. "Früher habe ich relativ viele historische Einzeldaten genannt und über Strukturen gesprochen", erzählt Mensing. Doch er habe schnell gemerkt, dass er so die Aufmerksamkeit nicht gewinnen könne. Jugendliche seien da übrigens keineswegs anders als Erwachsene. Was Menschen am meisten interessiere, sei das Leben anderer Menschen. Und von solchen Menschen erzählt Mensing bei seinen Rundgängen. Nicht anekdotenhaft, das wäre zu wenig, sondern reflektiert und indem er das Beispielhafte der geschilderten Biografien herausstellt. Dann werden einst junge Menschen wie Martin Kieselstein und dessen Schwester zu Begleitern durch den Gedenk- und Lernort. Mensing erzählt den jungen Besuchern auch von Kieselsteins Jugend in Siebenbürgen und von dessen Leben nach der Befreiung. So entsteht Identifikation. Und dann ist da noch der Ort. Jugendliche wollen genau wissen, wie authentisch das Gezeigte ist: Was ist echt? Was ist rekonstruiert?

Manche Jugendlichen stellen am Beginn des zweieinhalbstündigen Rundgangs eine demonstrative Lässigkeit zur Schau. Und bei manchen Klassen, in denen es viele Schüler mit Migrationshintergrund gibt, erlebt Mensing die Haltung: Das ist nicht meine Geschichte. Doch das ändert sich schnell, wenn er von den Türken, Bosniern, Muslimen im KZ Dachau erzählt. Dann kommen die kritischen Fragen: Warum gibt es keinen religiösen Erinnerungsort für die muslimischen Opfer? Viele Schüler, auch Muslime, nutzen am Ende des Rundgangs das Angebot, das ihnen die ökumenische Besucherbegleitung macht, und zünden eine Kerze an. "Da sind wir dann aber nicht mehr dabei", sagt Mensing. Es sei eine Möglichkeit, mit den Emotionen umzugehen, die beim Besuch des ehemaligen Konzentrationslagers entstanden sind. Ebenso wie der Eintrag ins Besucherbuch der Versöhnungskirche. Deplatziert Flapsiges findet Mensing in dem Buch nur ganz selten.

Emotionen wecken, ohne sie den Jugendlichen aufdrücken zu wollen. Identifikation ermöglichen, ohne ins Anekdotische abzugleiten. Offen mit Fragen der Authentizität umgehen, ohne die Schüler mit einer Faktenflut zu bombardieren. So sieht Mensings ganz persönliche Gedenkstättenpädagogik aus.

Dazu gehört es auch, nicht wie ein Lehrer aufzutreten. Die Schüler dürften nicht das Gefühl bekommen, abgefragt zu werden, quasi wieder in einer Schulsituation zu sein. Das beobachtet Mensing bisweilen auch im Museum der Gedenkstätte. "Manchmal lassen Lehrer dort ihre Gruppe für zehn Minuten allein und sagen ihnen, sie sollten sich umschauen", erzählt Mensing. Angesichts der vielen Informationen auf Bild- und Texttafeln fühlten sich die Schüler dann oft tatsächlich mit der Faktenflut alleingelassen. "Das hat dann etwas Hilfloses.

© SZ vom 29.04.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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