Süddeutsche Zeitung

Feiern am Wahltag:Der Corso Leopold ganz im Zeichen Europas

Auf der Leopoldstraße ist in diesem Jahr die Europawahl allgegenwärtig. Das Straßenfest ist ein Streifzug durch europäische Musik, Tanz, Theater und Kulinarik.

Von Anna Hoben

Ob der Mann bei der Zusammenstellung seiner gesammelten Luftballons auf die Farben geachtet hat oder ob es einfach Zufall ist? Das Gelb von Radio Charivari, das Blau von Lidl und das Blaugelb des Europa-Ballons, die über dem Kopf des Passanten schweben, passen jedenfalls gut zusammen. Luftballons sind die Währung von Parteieninfoständen, ohne Luftballons kann man gleich wieder einpacken, am Sonntag lässt sich dies auf dem Corso Leopold schön beobachten. An der Münchner Freiheit, wo sich die Stände aneinanderreihen, buhlen sie vor allem um Kinderwagen - an ihnen kann man die aufblasbaren Botschaften einfach so gut befestigen. An einem Stand gibt es außerdem eine Seifenblasenmaschine. "Die FDP hat Seifenblasen", stellt ein Mann mit Einstecktuch fest und nickt zufrieden seiner Begleiterin zu. "Alles richtig gemacht".

Aus Anlass der Europawahl steht das große Straßenfest in diesem Jahr im Zeichen der europäischen Fahne, er ist ein Streifzug durch europäische Musik, Tanz, Theater und Kulinarik, unter dem Motto "Heimat Europa". Wer seine Stimme noch nicht abgegeben hat, wird hier daran erinnert. "Frieden ist kein Naturgesetz", steht auf einem Plakat, und "Zusammenhalt kann man nicht online kaufen". Wer schon gewählt hat, den erkennt man an einem blauen "Ich-habe-gewählt"-Sticker, den man sich am Stand von "Pulse of Europe" holen kann. Dort steht Birgit Mele vom Verein und verteilt kleine Europaflaggen, außerdem kann man hier an auch einem Multiple-Choice-Quiz teilnehmen: Wie viele Länder haben den Euro? Wie heißt der Ratspräsident? Welche Sprache beherrschen die meisten Menschen in der EU als Muttersprache? Wer unterbreitet Vorschläge für EU-Rechtsvorschriften? Was ist von 2021 an in der EU verboten? Wer alle Fragen richtig beantwortet, hat am Stand die freie Auswahl unter den EU-Merchandising-Artikeln: Tassen, Beutel, Stifte, und was es da noch so alles gibt.

Vier oder fünf hätten das am Samstag geschafft, erzählt Birgit Mele, und zwar "überwiegend ganz junge Leute". Auch Frieda, 34, und Christina, 27, holen sich ein Quiz, geben aber recht schnell auf. "Zu schwierig", sagt Frieda, die Auswahlmöglichkeiten bei den Zahlen seien zu nah beieinander. Sie gehen die Fragen zusammen mit Birgit Mele durch und sind ganz schön erstaunt darüber, wie viele Einwohner die EU hat: 510 Millionen. Was Europa ihnen bedeutet? Die beiden Frauen sprechen von Zusammenhalt und Frieden, davon, wie einfach es ist, sich innerhalb der EU zu bewegen. "Man zieht in ein anderes Land um wie in eine andere Stadt", sagt Frieda, die einmal in England gewohnt hat. Auch Christina, die ursprünglich aus Moldawien stammt, einen rumänischen Pass hat und in Deutschland lebt, schätzt vor allem die "freien Grenzen". Es sei wichtig, sagt Frieda, "dass die EU bleibt, dass jetzt nicht alle einen auf England machen".

Ein paar Meter weiter, direkt auf der Kreuzung Leopold-/Herzog-/Feilitzschstraße ist am Vormittag der Brexit Ausgangspunkt einer Diskussionsrunde im hölzernen Pavillon des Vereins "Mehr Demokratie", der seit mehr als 30 Jahren besteht und sich unter anderem für bundesweite Volksentscheide einsetzt. Genau darum geht es nun, um die Frage, was Volksentscheide bringen; vier Bürgerinnen und Bürger sind gekommen, irgendwann gesellt sich eine fünfte dazu. Die geringe Beteiligung sei "nicht ungewöhnlich", sagt Karl Busl vom Verein, es sei eben schon immer noch so, dass die Leute lieber in den Biergarten gingen als sich mit politischen Themen auseinanderzusetzen. Aber, auch das sagt er, "steter Tropfen höhlt den Stein", 10 000 Mitglieder habe der Verein mittlerweile deutschlandweit.

"European Public Sphere" nennen sie den Holzpavillon, unter dessen Kuppel die Menschen zusammenkommen, Probleme benennen und Ideen diskutieren können. Er hat unter anderem bereits in Städten in Spanien, Italien, den Benelux-Ländern und Polen haltgemacht. Durch die Dokumentation der Veranstaltungen soll nach und nach ein "Zukunftsarchiv" für Europa entstehen. Außen an der Holzkonstruktion hängen Zettel mit Wünschen an die Politik, "Menos corupción" steht auf einem, also "weniger Korruption", jemand anders plädiert für "verständlichere Politik".

Hinter der Absperrung steht die AfD und will Passanten auf die andere Seite locken

In der Kuppel sitzt auch Marianne Mittelmeier, sie ist an diesem Tag aus Kochel am See nach München gefahren ist, extra der politischen Diskussionsrunden wegen, und hat jede Menge Fragen mitgebracht. Sie sei ja auch für mehr "Demokratie von unten", sagt sie, sehe aber das Problem des Informationsdefizits. Da nehme sie sich selbst nicht aus, sie habe zum Beispiel erst vor ein paar Wochen angefangen, sich mit der EU zu beschäftigen. Wie man es also schaffe, "dass Menschen politisch mündig werden"? Karl Busl spricht von politischer Bildung an Schulen; es brauche aber auch bei Erwachsenen "viel mehr Bewusstsein dafür, dass es uns alle angeht", entgegnet Mittelmaier. Am Ende halten sie fest: Die Menschen haben sich zu sehr an Frieden und Demokratie gewöhnt. "Wir müssen wieder aktiver werden", sagt Busl.

Hinter der Absperrung zum Corso Leopold, in der Herzogstraße, hat die AfD ihren Stand aufgebaut. Auch die Rechtspopulisten, die immer wieder betonen, wie wenig sie von der EU halten, wollen in der letzten Minute noch um Wählerstimmen werben - per Megafon sollen Passanten auf die andere Seite gelockt werden. Ein paar Meter weiter hat sich eine Frau mit einem Schild postiert, sie steht dort sehr geduldig über Stunden: "Alle Rassisten sind Arschlöcher - überall".

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SZ vom 27.05.2019/smb
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