Süddeutsche Zeitung

Corona-Krise in München:Gemeinsam getrennt

Bei schönem Wetter zieht es die Menschen nach draußen. Sie genießen die Sonne, radeln, flanieren - und die Polizei erklärt freundlich die Regeln. Ein Streifzug durch München.

Von Bernd Kastner

Er und sie, verliebt. Er hat seinen rechten Arm um ihren Nacken gelegt. In der linken Hand trägt er eine große Packung Klopapier. So gehen sie vorbei an Grabmälern. Ob er mit der Beute ihr Herz erobert hat? Liebe in Zeiten von Corona.

Der Himmel ist so blau wie nie, es sind kaum Flugzeugabgase in der Luft. Forsythien leuchten gelb durch die grün schimmernden Zweige im Alten Nordfriedhof, einer der wenigen grünen Flecken der Maxvorstadt. Er ist an diesem Samstag so belebt wie immer. Die Leute liegen zwischen den Gräbern, die Bänke sind besetzt, die einen lesen, die nächsten telefonieren, die übernächsten essen Pizza aus Kartons. Wäre man jetzt Polizist, man müsste womöglich alle fragen: Wie lange sitzen sie schon hier? Kommen Sie aus demselben Hausstand? Polizei ist gerade nicht zu sehen.

Am Ausgang hängt das übliche blaue Corona-Regel-Plakat, "Abstand halten", Gruppenbildung vermeiden und so weiter, darunter hat Julian einen Zettel aufgehängt. Julian ist ein 13-jähriger Bub aus dem Viertel, er bietet Einkaufshilfe an, "einfach anrufen". Von den Abreißzetteln mit seiner Nummer ist nur noch einer da.

Mit dem Rad weiter Richtung Englischer Garten. Vor der Uni an der Ludwigstraße fällt nur auf, dass nichts auffällt. Immerhin, sie röhren noch. Wer ein tiefergelegtes Auto mit dicken Auspuffen hat, den locken die freien Straßen zum Cruisen. Würde es nicht mehr dröhnen zwischen Feldherrnhalle und Münchner Freiheit - es wäre für München Ausnahmezustand.

Kurz hinterm Eingang zum Englischen Garten, bei der Tiermedizin, ist Polizei in Sicht. Linker Hand ein Mannschaftswagen, mittig noch einer. Und Wagen drei fährt langsam am Schwabinger Bach entlang, biegt rechts ab, stoppt an der ersten Bank, Fenster runter, die Worte zu den Sitzenden sind nicht zu verstehen. Paar Meter weiter, stopp, weitere Worte, zwei Leute stehen auf, langsam fährt der Polizeibus weiter. Dann nähert sich Wagen drei Wagen zwei, der bewegungslos wacht. Sie kommen sich bedenklich nahe, aber halten Abstand. Wagen drei fährt weiter, eine Staubwolke hinter sich herziehend. Schon die würde reichen, Sonnenbadende zu vertreiben.

Tschuldigung, kurze Frage. Die Polizisten fahren das Fenster runter, sie sind vom USK, das ist die Einheit, die sonst bei Demos und Fußballspielen dazwischen geht. Nein, sagt ein Beamter, sie vertreiben niemanden, sie informieren nur, weil so viel Unsicherheit in der Welt sei: Bitte nicht zu lange sitzen bleiben, ein paar Minuten, okay, aber nicht länger. Das USK als freundliches Aufklärungskommando, auch das ist München in Zeiten von Corona. Man stelle sich vor, die Polizei würde in normalen Zeiten Autofahrern die Verkehrsregeln erklären, bitte nicht falsch parken, bitte nicht rasen, keine Fußgänger und Radler zu gefährden. Gäbe es dafür die Akzeptanz wie beim Durchsetzen der Corona-Regeln?

17 300 Corona-Kontrollen vermeldet die Münchner Polizei, allein von Freitag- bis Sonntagfrüh. 600 Verstöße hat man notiert, aber "alles nicht sehr dramatisch", sagt ein Polizeisprecher. Hotspots hätten sich auch nicht gebildet, "die Leute halten sich daran".

Ansonsten? Die Welle ist weg, die Stadt hat das Wasser im Eisbach runtergeregelt, um die Surfer und ihre Zuschauer nicht in Versuchung zu führen. Unterm Landtag, wo die Isar nach unten rauscht, setzt sich ein Mann auf eine Bank und packt die Zeitung aus. Ist das ein "triftiger Grund"? Man will es hoffen, er liest die SZ. Keine Polizei schreitet ein, weil gerade keiner da ist.

Weiter gen Süden, grob Richtung Berge, die man meiden soll. Der Isarradweg wirkt wie ein Risikogebiet, so eng und so voll wie er ist. Sie radeln, sie rasen, sie skaten, hoffentlich kann man sich beim Überholen nicht anstecken. Im Augenwinkel erkennt man eine Frau mit Wägelchen, eine Flaschensammlerin. Auch um ihre Lebensgrundlage ist es schlecht bestellt. Wenn kaum mehr jemand draußen Bier trinkt, lässt auch kaum mehr jemand seine Pfandflaschen stehen.

Auf den großen Isarwiesen herrscht fast üblicher Frühlingsbetrieb, aber größere und damit illegale Menschengruppen sind nicht zu erkennen. Am Flaucher staksen Kinder mit hochgekrempelten Hosenbeinen durchs Wasser. Aber da! Ein Fußballspiel! Erlaubt? Vermutlich ja. Es sind nur drei Spieler, eine gemischtgeschlechtliche Partie, eine hingeworfene Jacke dient als Tor, ein Mädchen versucht, Mama und Papa auszudribbeln. Eigentlich wäre jetzt Bundesliga.

Halb vier, ein Eurocity der österreichischen Bahn quert die Isar auf der Braunauer Eisenbahnbrücke. Man kann durch ihn hindurchschauen, es sind keine Umrisse von Reisenden zu erkennen. Wenig später, ein Railjet fährt in die andere Richtung, auch er ist leer.

Die Tour führt rein in die Innenstadt. Münchens berühmtester Radweg, der in der Fraunhoferstraße, ist frei, wenn man von ein paar Falschparkern absieht. Am Gärtnerplatz geht eine Frau mit Hund die Stufen des Theaters nach oben, macht Fotos vom Treiben im Rondell, das sonnengemäß gefüllt ist.

Anders die Kaufingerstraße, hier verlieren sich die Menschen. Hier ist München nicht mehr München. Und weil keine Touristen da sind, ist auch Ruhe in der Frauenkirche, wenn man von den drei Männern absieht, die die Online-Übertragung des Palmsonntagsgottesdienstes vorbereiten. Im Mittelschiff steht ein längliches, hohes Gebilde, darin eine Kamera, sie wird Kardinal Reinhard Marx aufnehmen, wenn er in seiner Predigt über Jesus, die Welt und sich selbst nachdenkt: "Spötter, Verächter, Machthaber, Intriganten: All das steckt in uns selber. Ich sehe in der Karwoche die Ermutigung zu schauen: Wo stehe ich selber?"

Selbst der Hauptbahnhof ist dieser Tage ein Ort der Andacht. Erster Ferientag, erster Reisetag, aber Verreisen ist ja verboten. 17.03 Uhr. Auf Gleis 15 kommt der ICE aus Hamburg-Altona an. Es steigen auch Fahrgäste aus, und es sind sogar mehr als Zugbegleiter, dreizehn, um genau zu sein.

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Quelle:
SZ vom 06.04.2020/infu
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