Coronavirus in München:Wenn die Oma im zweiten Stock mit dem Kopf wippt

Heimlicher Treffpunkt, Balkonersatz, Pop-up-Disco: Wenn das öffentliche Leben stillsteht, wird der Hinterhof zum Ort der Gemeinschaft.

Von Philipp Crone

Die Theresien 25 wird schwer zu schlagen sein, so viel steht am Freitagabend um kurz vor 21 Uhr fest. Welcher Hinterhof soll das denn noch übertreffen: Der Balkon im dritten Stock sieht aus, als hätte jemand die gesamte Beleuchtung eines Clubs dort abgeladen. Discokugeln, LED-Leisten, Beamer. Noch sind es ein paar Minuten bis zur Show, unten trotten nach und nach Zweiergrüppchen durch zwei Einfahrten in den Hof, bis einer aus einer WG im Erdgeschoss sagt: "Alter, da kommen immer mehr Leute!" Er sagt es in den Bildschirm seines Laptops, auf dem in kleinen Fenstern Köpfe zu sehen sind. Eine Videoschalte zur einzig geöffneten Disco Münchens an diesem Abend.

Schon bevor der Lichtdesigner Georg Veit oben auf den Startknopf drückt und die Musik spielt, ist klar: Dort ist die wundersame Wandlung der Hinterhöfe zum Greifen spürbar. Vom Nutzraum zum Sehnsuchtsort. Hier bekommt man jetzt fast alles, was sonst nicht schwer zu haben ist: ein bisschen Auslauf und ein bisschen Austausch, und wenn es nur mit dem sonst eher gemiedenen Langweiler aus dem zweiten Stock ist. "Plopp!" In der WG wird eine Halbe stilgerecht mit dem Feuerzeug geöffnet, oben drückt Veit auf Start.

Coronavirus in München: Die Anwohner kommen, um sich das Spektakel anzusehen.

Die Anwohner kommen, um sich das Spektakel anzusehen.

(Foto: Catherina Hess)

Die Menschen erstarren beim ersten Ton, bunte Punkte wirbeln von den Spiegeln der Discokugeln, reflektieren auf die Hauswände, während aus den Boxen eine Hi-Hat Sechzehntel zirpt. Keyboard-Akkorde, "Yea", ein Clap auf zwei und vier, und Justin Timberlake singt: "I got this feelin'." Unten wippen die ersten beiden, "inside my bones", die nächsten zwei, "all through my city, all through my home", unter dem Parken-Verboten-Schild swingt der nächste und lässt sein Weinglas kreiseln. "I've got that" - und dann kommt der Beat, auf die Eins, "Sunshine in my pocket", die Punkte tanzen über die Fenster, hinter denen Frauen und Männer stehen. Silhouetten, die langsam erfasst werden vom Rhythmus, vom Puls. Ein normal groovender Song, tausendfach gehört, in Zimmerlautstärke von einem Balkon gehaucht, und man könnte heulen, so schön ist das in dieser Zeit.

Beat weg, das typische Stilmittel, "just imagine", neuer Kick: Beat, Bass und "Dance, dance, dance!" Jetzt nehmen die ersten sogar die Handys runter, pfeifen, lassen das Filmen und tanzen auf den leeren Parkplätzen. Die Oma im zweiten Stock wippt mit dem Kopf zur Seite, das Punkerpärchen eins drüber mit den Köpfen nach vorne. Längst wippen auch die Köpfe auf dem Laptopbildschirm. "I can't stop the feeling". Käme die Polizei vorbei, sie würde nicht mosern, sondern das Blaulicht einschalten. Ende, Applaus, Zugabe. Vor zwei Wochen hat Veit das erste Mal Musik in seinem Hof gespielt, "Solang man Träume noch leben kann", Münchner Freiheit - am Tag zehn der Ausgangsbeschränkungen. "Manche haben hinterher angerufen und geheult", erzählt Veit.

Wenn sich jemand mal gefragt haben sollte, warum es so viele Clubs in dieser Stadt braucht, hier sieht man es: Weil gemeinsamer Tanz glücklich macht. Dieser Hinterhof wird vielleicht nie wieder derselbe sein. Obwohl eine Anwohnerin sich gleich beim ersten Kurzauftritt beschwert hat. Auch das gibt es natürlich. Hinterhöfe sind halt gut einsehbar. Um kurz nach neun ist wieder Ruhe, die Disco-Pilger schlendern zurück in ihre eigenen Hinterhöfe. Tanzen ist ja nur das eine.

Am Samstagnachmittag im Glockenbachviertel, Fraunhoferstraße. Leon Wuest putzt seine Harley, eine "Fat boy". Normalerweise lasse er das machen, geht aber gerade ja nicht. Und ausfahren darf er sie auch nicht. Wuest hat 250 Angestellte und wohnt in einem Haus im Innenhof, Dachgeschoss, der Balkon läuft einmal rum. Ein älterer Mann radelt an ihm vorbei, klirrende Flaschen in einer Tüte auf dem Gepäckträger. Er sammelt jeden Morgen Leergut an der Isar. Arm und reich in einem Hof, das gibt es vielleicht so nur in München.

Im Westend um 16 Uhr. Nachmittag ist gerade ja die Zeit der Bürgersteigerei. Die Radwege quellen über, auf den Bürgersteigen kann man kaum ausweichen, alle sind draußen, wenige drinnen, in den Höfen. In einem an der Gollierstraße sitzt Isabella Owusu und liest ein Buch neben einem gesperrten Spielplatz. Vögel singen oder trinken an einem kleinen Vogelbrunnen. "Sonst ist mehr los", sagt sie. Kinder, die normalerweise über Seile klettern, spielen jetzt eben Federball, weil sie da den richtigen Abstand einhalten. Owusu ist Erzieherin, sie genießt die Zeit, weil es abends und morgens so still ist im Viertel. "Und hier drin ist es, als ob man gar nicht in der Stadt wäre." Kinder würden nun viel lesen und malen im Hof. Aber sie beobachtet auch, wie gepetzt und zurechtgewiesen wird. "Ältere Kinder maßregeln jüngere." Auch das gehört zum Hinterhof im Frühsommer 2020.

Eine Bank weiter saßen neulich noch drei Senioren mit Mundschutz - auf dem Schoß. Der lapidare Kommentar aus dem zweiten Stock: Ah, Kamikaze-Rentner. Geschichten über denunzierende Anwohner sind allerdings seltener als die über schöne Erlebnisse. Ballonketten, die sich von Balkon zu Balkon hangeln zum Beispiel.

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Vielerorts ist die Atmosphäre entspannt.

(Foto: Peter Kneffel/dpa)

In Schwabing in einem Hof an der Karl-Theodor-Straße sitzt ein Pärchen beim Eiskaffee, aus der Hofwerkstatt wimmert eine elektrische Feile, zwei junge Männer basteln, während weiter hinten Kinder im Gras spielen und vier Rentner mit Mundschutz im Gesicht sie von einer Bank aus beobachten. Eine Kugel aus Pappmaché hängt von einem Balkon. Sieht aus wie ein Corona-Virus, ist aber ein Der-kleine-Prinz-Planet. Zusammengezurrte kleine Welt.

Man sitzt und genießt, Vogelgezwitscher, Besteckgeklimper. Der Hof, früher ein Ort, an dem man Angst hatte, dass einem das Rad geklaut wird, im Mini-Beet das Gemüse gemopst oder jemand schimpft, wenn man beim Spielsachen-Besprühen den Boden mal rosa macht, ist in der Krise zu einem Fluchtpunkt geworden. Wenn sich die Schlangen an den Eisdielen verkürzen und die Münchner vom Bürgersteig in den Hof abbiegen, schlägt seine Stunde. Mit einem Bier, einem Buch, vielleicht einem Beet. Und manchmal eben auch mit einem Beat.

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