Hilfsorganisation:Im Schatten des Sozialsystems

Coronavirus - Ärzte der Welt

Anche Angelova und ein ehrenamtlicher Arzt der Organisation.

(Foto: Peter Kneffel/dpa)

Die Organisation "Ärzte der Welt" hilft Menschen ohne Krankenversicherung. Die Bulgarin Anche Angelova ist eine von ihnen. Während der Corona-Pandemie ist sie in großer Gefahr.

Fragt man Anche Angelova, wie es ihr geht, dann knöpft sie ihre Bluse auf und zieht das Oberteil herunter. Die 65-Jährige zeigt ihre Schulter, auf der eine handtellergroße, rote Wunde klafft. Als Nächstes streckt sie die Zunge heraus - der Mund ist entzündet, essen bereitet ihr Schmerzen. Ihre Haut ist übersät mit Wunden, Körperfunktionen versagen, "und morgens spucke ich 10 bis 15 Minuten Blut". Wie die Krankheit heißt, die ihren Körper angreift, weiß sie nicht. Angelova ist Bulgarin, spricht kein Deutsch. Viele Dinge versteht sie nicht: Warum sie nicht einfach zu einem Arzt oder ins Krankenhaus gehen kann wie die Deutschen. Wieso sie, die EU-Bürgerin, keinen Anspruch auf eine Krankenversicherung hat. Klar ist ihr aber: Zur Zeit der Corona-Pandemie ist sie in großer Gefahr.

Viele Menschen wie Angelova suchen derzeit Rat bei der Hilfsorganisation "Ärzte der Welt" in München. Der Verein betreut Menschen, die durch das Raster der Krankenversicherung gefallen sind. Hier kennt man auch den Namen von Angelovas Leiden: Pemphigus vulgaris, eine Erkrankung, bei der das Immunsystem die Haut angreift. Hinzu kommt Diabetes. "Sie ist multimorbid. Die Risiken wachsen mit jeder Erkrankung exponentiell", sagt Cevat Kara, der die offene Praxis von Ärzte der Welt leitet. Die Lage zwingt Angelova zur Vorsicht. "Ich gehe nirgends hin", sagt sie. Sie macht höchstens ein paar Schritte in den Hof des Hauses, in dem sie bei einer Freundin untergekommen ist. Die wäscht sie und cremt sie mit Salben ein.

Angelova verhält sich unauffällig, denn eigentlich darf sie in der Wohnung nicht leben, die Hausverwaltung hat der Hauptmieterin schon gekündigt. Im schlimmsten Fall landet eine chronisch kranke Seniorin auf der Straße. "Das kann für sie den Tod bedeuten", sagt Kara. Ihre Geschichte im Schatten des Sozialsystems beginnt in einem Dorf im Osten Bulgariens. Auf der Suche nach einem besseren Leben mit Arbeit bricht die Witwe vor rund acht Jahren in Richtung München auf - mit Sohn, Schwiegertochter und zwei Enkeln. Doch Deutschland hat nicht auf sie gewartet. Angelova findet weder Job noch Wohnung. Sie schläft bei Bekannten, manchmal auch im Auto oder auf der Straße. Sie sammelt Flaschen und bettelt. Dass man sich beim Einwohnermeldeamt melden muss, weiß sie nicht. Das Formular könnte die Analphabetin auch nicht ausfüllen.

Zur Armut kommen Schicksalsschläge. Nach zwei Jahren erkrankt ihr Sohn an Krebs. Zwei Monate später stirbt er. Wenn es Angelova schlecht geht, stellt sie sich in der kostenlosen Praxis von Ärzte der Welt vor. Dorthin geht sie auch, als sie Mitte 2019 einen starken Husten bekommt und ihr Mund sich entzündet. Es ist der Beginn ihrer Krankheit. Knapp 80 000 Menschen in Deutschland waren 2016 laut Erhebung des Statistischen Bundesamts nicht krankenversichert. Um ein Vielfaches höher liegt nach Einschätzung von Experten die Dunkelziffer: Der Professor für Medizinmanagement an der Universität Duisburg-Essen, Jürgen Wasem, geht von einer sechsstelligen Zahl von Betroffenen wie etwa Obdachlosen aus. Hinzu kämen zwischen einer halben und einer Million Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus.

An der Stelle kommt Ärzte der Welt ins Spiel. Die Organisation bezahlt die sechs verschiedenen Medikamente, die Angelova täglich schlucken muss. Sie organisiert Ärzte, die sie ehrenamtlich behandeln, und verhandelt mit Krankenhäusern. Vor allem aber versuchen Kara und seine Kollegen, die Patientin in der Sozialversicherung unterzubringen. Damit sind sie bislang gescheitert. Mitte März wurde Angelova in einer Münchner Klinik operiert - eine Gefälligkeitsleistung, für die das Krankenhaus in Vorleistung ging. Nun führt Angelova ein Leben in der Warteschleife. Ist weiter vorsichtig. Versucht es mit neuen Anträgen. Und hält an einer simplen Hoffnung fest: "Ich wünsche mir, dass jeder zum Arzt kann."

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