Sozialarbeit in München:Eine Bugwelle an Fällen

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In den Sozialbürgerhäusern ist man bislang kreativ mit Corona umgegangen. Mit den Lockerungen wird nun die Not sichtbar, die durch die Krise entstanden ist

Von Sven Loerzer

Probleme gab es bisher mehr als genug in der Stadt, das erfahren die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bezirkssozialarbeit (BSA) in den zwölf Sozialbürgerhäusern Tag für Tag: Finanzielle Notlagen, Arbeitslosigkeit, Erziehungs- und Trennungskrisen, Pflegebedürftigkeit, Krankheit. Die Corona-Krise hat nun aber den Druck auf jene Familien und Alleinstehende erhöht, die es bisher schon nicht leicht hatten, mit ihrem Leben zurecht zu kommen. Noch gibt es zwar keine Zahlen, aus denen sich eine Zunahme häuslicher Gewalt belegen ließe. Doch Experten sind sich sicher, dass sich eine nicht unerhebliche Bugwelle an Fällen aufbaut.

Ausgangsbeschränkungen und Kontaktverbote dürften dazu geführt haben, dass Fälle häuslicher Gewalt zunächst nicht bekannt wurden. Das Kindeswohl ist nicht nur gefährdet, wenn Kinder Opfer von körperlicher oder seelischer Misshandlung und Vernachlässigung werden, sondern auch dann, wenn sie Zeugen der Gewalt zwischen Vater und Mutter werden. "Wenn eine Bezugsperson Gewalt erfährt, sind Kinder selbst höchst verunsichert. Sie brauchen einen sicheren Hafen", erklärt Sibylle Steinhuber, Leiterin des Sozialbürgerhauses Orleansplatz. Die Opfer häuslicher Gewalt, weit überwiegend Frauen, suchen erfahrungsgemäß oft erst nach mehreren Vorfällen Hilfe von außen.

Die Corona-Krise stellt die BSA vor neue Anforderungen. Einerseits muss der Gesundheitsschutz für die Sozialpädagoginnen ebenso wie für die Klienten gewährleistet sein, andererseits soll die BSA aber auch den Kontakt zu den Bürgern halten. Anhand von Falllisten haben sich die Teamleitungen der BSA deshalb überlegt, bei welchen Haushalten die Belastung zugenommen haben könnte, um dort dann anzurufen. "Das hat uns die Chance gegeben, sich nicht als Behörde zu zeigen, sondern fürsorglich nachzufragen, wie es zum Beispiel mit dem Homeschooling geht", erzählt Veronika Sailer, Leiterin des Sozialbürgerhauses Berg am Laim, Trudering, Riem. Oder wie es bei alten Leuten mit der Medikamentenversorgung oder dem Pflegedienst klappt. "So konnten wir frühzeitig Unterstützung einleiten."

Mit zunehmender Dauer der Ausgangsbeschränkungen sei die BSA nicht nur allein von Erziehungsberatungsstellen, sondern auch von besorgten Nachbarn angesprochen worden. Meist ergab sich aber keine Kindeswohlgefährdung, sondern Bedarf für Unterstützung, "die wir vermitteln konnten", sagt Steinhuber. Dass mehr Meldungen eingingen, führt Sailer darauf zurück, dass viele Nachbarn im Home-Office waren. "Sie haben Kinder schreien gehört und sofort an häusliche Gewalt gedacht. Kinder plärren aber halt auch mal. Die Aufmerksamkeit war geschärft, auch durch die Medien. Jetzt, wo nicht mehr so viele Menschen im Home-Office sind, erhalten wir wieder weniger Meldungen."

Trotz der wegen Corona reduzierten persönlichen Kontakte mit Klienten sei die BSA weiter "zu Hausbesuchen rausgegangen. Denn es geht bei einer unklaren Gefährdungslage darum, vor Ort gut hinzuschauen und sich einen eigenen Eindruck zu verschaffen", sagt Veronika Sailer. "Kommunikation läuft nach Untersuchungen zu 88 Prozent nonverbal. Man kann beim Hausbesuch die Interaktion zwischen Eltern und Kindern noch einmal anders betrachten als über Telefon", erklärt Sibylle Steinhuber. Die Inaugenscheinnahme sei wichtig. Wenn dazu die Mitwirkung der Eltern fehle, "wenden wir uns an das Familiengericht, um über eine gerichtliche Anhörung den Kontakt herzustellen und die Gefährdung einschätzen zu können."

Bei Älteren, die durch die Lungenkrankheit Covid-19 besonders gefährdet sind, war der Einkaufsservice sehr gefragt. "Wir haben darüber auch Menschen erreicht, die keine Kunden des Sozialbürgerhauses waren", sagt Steinhuber. Und oft ist im Gespräch deutlich geworden, dass sie mehr Unterstützung brauchten, als nur Hilfe beim Einkaufen. Allerdings machte die BSA auch die Erfahrung, "dass viele Ältere ihre Souveränität nicht aufgeben wollen", wie Steinhuber erläutert. So habe ein 82-Jähriger daran festgehalten, mit Maske selbst zum Einkaufen zu gehen.

Der Aufnahmestopp in den Pflegeheimen brachte manche Angehörige an den Rand der Verzweiflung. Bei der BSA meldete sich die Tochter einer Frau, die im Endstadium einer Krankheit wegen des Aufnahmestopps palliativ zuhause von einem Pflegedienst versorgt werden musste, bei noch nicht geklärter Finanzierung. Als die Frau, die Grundsicherung im Alter bekam, starb, sollte die Tochter die Wohnung räumen. "Das ging nicht, weil die Wertstoffhöfe geschlossen waren", sagt Sailer. Ein komplexer Fall, der viel Arbeit bedeutet.

Auch in einem anderen Fall erschwerte der Aufnahmestopp eine Lösung, wie Steinhuber berichtet. Eine Ehefrau, die ihren demenzkranken Mann zuhause pflegte, und selbst an Krebs erkrankt war, hatte die Polizei geholt, weil der demenzkranke Mann zunehmend aggressiv war. Durch Vermittlung des Sozialbürgerhauses kam er in eine Klinik, die Frau erhält nun Unterstützung durch eine Demenzberatung.

Die Corona-Krise deckt aber auch dramatische Fälle von Unterversorgung auf. So erhielt das Sozialbürgerhaus Orleansplatz den Anruf einer Arztpraxis. Dort sorgte man sich um einen Patienten im Rentenalter, ob nach einer Operation eine ordentliche Wundversorgung gewährleistet sei. Denn der Mann lebte in prekären Wohnverhältnissen und ging zum Duschen in ein nahegelegenes Bad. Wegen Corona musste es schließen. Wie sich beim Hausbesuch herausstellte, hat der Mann auch seit sieben Jahren keinen Strom mehr. "Wir sind an der Regulierung der Stromschulden dran und beraten ihn zu anderen Wohnformen", erzählt Steinhuber. "Ohne Corona wäre er nie bei uns angekommen, selbst hätte er sich nicht gemeldet."

Wie eine Frau, die sich nach dem Tod ihres Mannes im letzten Jahr alleine um ihre vier Kinder kümmerte. Im Januar hatte sie wieder zu arbeiten begonnen, dann schlossen wegen Corona Kitas und Schulen. Die BSA, die im letzten Jahr die Frau beriet, hakte nach. Um die Belastung zu reduzieren, vermittelte die BSA zwei Kinder in die Notbetreuung. Für das Schulkind wurde die fehlende Computerausstattung über Spenden finanziert, das vierte Kind erhielt die notwendige Förderung.

Nach der Lockerung von Beschränkungen wird die BSA nicht weniger zu tun haben. Viele Menschen, stehen nach dem Jobverlust oder wegen Kurzarbeit vor der Frage, "wie finanziere ich meinen Alltag". Ende Mai fangen die ausgesetzten Wohnungsräumungen wieder an, sagt Steinhuber, "das wird eine große Herausforderung nach Pfingsten". Und auch jene, denen derzeit die Wohnung nicht wegen Mietschulden gekündigt werden kann, die auf die Corona-Krise zurückzuführen sind, müssen die Schulden bis Mitte 2022 zurückzahlen. Sailer fragt: "Aber wie soll das gehen, wenn die Einkommensquellen wegbrechen?"

© SZ vom 26.05.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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