Coronavirus in München:"Niemand will der Depp sein, der sich als Einziger an die Regeln hält"

Coronavirus in München: Auf dem Münchner Viktualienmarkt weist ein Schild darauf hin, dass Besucher ihren Mund und ihre Nase bedecken sollen.

Auf dem Münchner Viktualienmarkt weist ein Schild darauf hin, dass Besucher ihren Mund und ihre Nase bedecken sollen.

(Foto: Stephan Rumpf)

Wer durch die Stadt läuft, trifft Menschen, die schwanken - zwischen Vorsicht und Übermut, Erleichterung und Ärger. Eine Sozialpsychologin erklärt, was da gerade vor sich geht.

Von Philipp Crone

Das ist vielleicht ein Bild für diese Zeit, Mitte Juni 2020 in München. Zwei Männer betreten am Samstagvormittag den Viktualienmarkt. Vater und Sohn, Thomas und John, 60 und 29, einer ohne, einer mit Maske. Nicht der Ältere trägt sie, sondern der Jüngere. "Ach, ich hab beim Aussteigen aus dem Bus vergessen, sie abzuziehen", sagt John Curran, dreht sich eine Zigarette und sieht sich um.

Er sieht Menschen, die Masken vor Mund und Nase, am Ohr oder am Kinn hängen haben, Menschen, die keine tragen. Er sieht das blau-weiße Schild mit dem Gesichtspiktogramm, das die Marktbesucher bittet, sich eine Maske aufzusetzen. Er sieht einen umzäunten Biergarten und Warteschlangen vor den Metzgern, er sieht Menschen, die Abstand halten, und andere, die das nicht machen. Er sieht auf einen Blick, dass vieles unklar ist in dieser Stadt in diesen Wochen, tief im vierten Corona-Monat: Es wirkt, als trügen viele Münchner Fragezeichen über ihren Köpfen, und ein paar Ausrufezeichen. Was ist gerade eigentlich wieder oder noch nicht erlaubt? Wer hält sich dran? Haltet euch dran! Was geht hier vor? Und wo geht es hin?

Coronavirus in München: Maske oder nicht Maske, das ist oft die Frage. Etwa für John und Thomas Curran (links) am Samstagvormittag auf dem Viktualienmarkt.

Maske oder nicht Maske, das ist oft die Frage. Etwa für John und Thomas Curran (links) am Samstagvormittag auf dem Viktualienmarkt.

(Foto: Stephan Rumpf)

Man kann dazu die Wissenschaft befragen, dann erklärt einem die Sozialpsychologin Marlene Altenmüller von der Ludwig-Maximilians-Universität, welche Phänomene sie gerade beobachtet. Oder zunächst einmal auch John und Thomas Curran, zwei Software-Entwickler aus Irland, die in München leben. Thomas sagt: "Bei Starbucks wirst du angeschrien, wenn du keine Maske aufhast." Seine lugt wie ein Einstecktuch aus der Hemdtasche. "Es kostet wenig Energie, hilft aber viel", sagt John, "und es stört mich, wenn sich jemand nicht daran hält wie zum Beispiel gerade die Frau neben uns im Bus." Er hat aber nichts gesagt, "typisch deutsch".

Psychologin Altenmüller spricht zunächst einmal von selektiver Wahrnehmung, die gerade viele haben. Man nehme wahr, was die eigene Meinung bestätigt. Das typische Beispiel sei ein U-Bahn-Wagen: "Wenn da 30 Personen Maske tragen, aber einer nicht, fällt einem vor allem der eine auf." Dazu kommt ein zweites Phänomen, das der "kognitiven Verfügbarkeitsverzerrung".

Wer unterwegs ist, sieht nur diejenigen, die auch auf den Straßen unterwegs sind. Dass wahrscheinlich sehr viele Münchner nach wie vor meist daheim bleiben und sich noch nicht wieder ins Sommerleben stürzen, bemerkt man nicht. Dadurch steigt wiederum das Gefühl, dass sich vergleichsweise viele nicht an die Regeln halten. Und ein Beobachter wie John Curran kommt zu dem Schluss: "Es ist eben gerade die Phase der halben Sachen." Halb so viele Plätze im Biergarten, halbe Schulklassen in der Schule, halbe Frühsommerfreude.

Vater und Sohn Curran gehen los und überlegen dabei. "Ich habe den Eindruck, dass sich gerade Erleichterung über die Lockerungen breit macht", sagt John, "man darf sich treffen, Bier trinken, aber ich befürchte, dass wir auch schleichend die Gefahr aus den Augen verlieren." Hinter ihm steht ein älterer Herr und begrüßt eine Dame mit einem saftigen Backenbussi. Aber das ist wahrscheinlich die selektive Wahrnehmung, sonst macht das hier niemand.

Der Bussi-Mann ist in der Sprache der Sozialpsychologen ein Freerider. "Niemand will der Depp sein, der sich als einziger an die Regeln hält", sagt Psychologin Altenmüller. Das sogenannte soziale Dilemma sei eben, dass die Corona-Bekämpfung nur funktioniert, wenn alle mitmachen, man sich zum Wohle aller zurückhalten muss. Aber jeder hat auch ein Gespür dafür, wie er selbst am besten wegkommt, nämlich wenn alle anderen die Vorschriften umsetzen, nur man selbst nicht. Dann ist man ein Freerider, so wie jemand ohne Ticket in der U-Bahn. "Auch deshalb achtet man so sehr auf diejenigen, die sich nicht an die Vorgaben halten, um sie dazu zu bringen, das doch zu tun", sagt Altenmüller. Um eben nicht der Depp zu sein, schon gar nicht in München, das wusste schon der Monaco Franze.

Auch Juliane Steffens will nicht der Depp sein. Sie schlendert mit ihrem Mann am Biergarten vorbei, die Maske am Gummiband in den Fahrradhelm eingeklippt. Steffens ist Juristin, klingt also fast wie Altenmüller, wenn sie über die derzeitige Situation spricht. "Mein persönliches Entfernungsempfinden hat sich stark verändert", sagt Steffens. Sie hat mittlerweile schnell das Gefühl, dass ihr jemand zu nahe kommt. "Und ich spreche nicht mehr in die Richtung von jemandem, sondern immer an ihm vorbei." Das sei Vorsicht und Solidarität, "keine Angst". Steffens lebt in Berlin-Charlottenburg und freut sich, dass der Viktualienmarkt anders als der Markt in ihrem Heimatkiez keine Zutrittsbeschränkung hat.

Dafür empfindet sie hier in München "fast schon ein Enge-Gefühl", das dem Bussi-Mann sehr wahrscheinlich abgeht. "Ich sage oft: Können Sie bitte den Abstand einhalten? Aber das wird gerade immer schwieriger." Das Regel-Ausnahme-Verhältnis habe sich verändert, so nimmt die 35-Jährige das wahr. Und dadurch auch "die Begründungsbedürftigkeit von Verhalten", sprich: Vor zwei Wochen sei es noch in Ordnung gewesen, jemanden darauf hinzuweisen, dass er seine Maske aufsetzt. Mittlerweile sei das nicht mehr so akzeptiert. Warum? Wegen der Reaktanz, sagt Psychologin Altenmüller.

Coronavirus in München: Am Freitagabend war nach der gefallenen Sperrstunde schnell wieder sehr viel los in der Innenstadt, etwa in der Cordo-Bar in der Klenzestraße.

Am Freitagabend war nach der gefallenen Sperrstunde schnell wieder sehr viel los in der Innenstadt, etwa in der Cordo-Bar in der Klenzestraße.

(Foto: Stephan Rumpf)

Derzeit könne man bei vielen eine Trotzreaktion sehen, sagt die 26-Jährige. "Wenn ich das Gefühl habe, dass mir etwas aufgezwungen wurde, steigt auch das Gefühl, ausbrechen zu wollen." Es gibt Menschen, die früher nie ins Kino gegangen sind, das aber jetzt machen, einfach weil es möglich ist. Menschen, die nie all ihre Freunde auf einmal getroffen haben, jetzt aber schon. "Die sagen: Jetzt erst recht." Die gehen auch gleich am Freitagabend wieder aus.

Regeln kennen, Regeln einhalten, Regeln brechen, Regeln überwachen

Da war, nur Stunden nach der Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs, die Corona-Sperrstunde um 22 Uhr zu kippen, in der Innenstadt bereits mehr los als zuletzt. Die Gastronomen jubelten, die Gäste auch. Von Abstand war in den Restaurants, Bars und Kneipen nicht viel zu sehen, auch wenn sich die Wirte darum bemühten. Bars und Kneipen haben eigentlich noch geschlossen, umgehen diese Regeln aber, indem sie kleine Speisen anbieten und deshalb auch öffnen dürfen.

Die Polizei ist auch noch unterwegs, aber mehr um zu ermahnen und zu erinnern, als um groß Strafen zu verteilen. Wohin man sieht, Ambivalenz. Vor der Bar Robinson stehen am Freitagabend Dutzende eng zusammen, "die Leute lechzen nach Sozialkontakten", sagt einer von ihnen. Hier wird sofort wieder lang gefeiert, zumindest ist die Scherbendichte am Samstagmorgen und die Mülldichte an der Isar am Sonntagmorgen so hoch wie vor Corona.

München im Juni, das ist: Regeln kennen, Regeln einhalten, Regeln brechen, Regeln überwachen. Während manche wie die Juristin Steffens vorsichtig bleiben, sagen andere eben: Jetzt erst recht. Als wollten sie erzwingen, dass alles möglichst schnell so wird wie früher. Und ins Netz darf man derzeit ohnehin nicht schauen, da ist die Stimmung und die Sprache noch eine Stufe aufgeheizter als sonst.

In der Klenzestraße begrüßen sich am Samstagnachmittag ein Mann und eine Frau. Er sagt: "Hi, man darf sich wieder in den Arm nehmen - darf man nicht. Ach, ist egal." Und nimmt sie innig in den Arm.

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