Containern in München:"Bevor das Essen im Müll landet, esse ich es lieber"

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Leonie studiert in München Jura und holt sich Obst und Gemüse einmal die Woche aus den Mülltonnen hinter einem Supermarkt. Das tut sie nicht nur, um Geld zu sparen.

Von Linus Freymark

Klackernd schlägt der Deckel der Tonne gegen die Hauswand. Leonie hat ihn ein bisschen zu schwungvoll geöffnet. Es klackt nur leise, aber in dem dunklen, menschenleeren Hinterhof irgendwo in Sendling ist es deutlich zu hören. Plastiksäcke voller zerquetschter Pfandflaschen liegen herum, auf zwei Schubkarren stehen Papierabfälle. Jemand hat sie ordentlich zu großen, rechteckigen Paketen verschnürt. Die Mülltonnen stehen verdeckt hinter einem Anbau. "Nicht für den menschlichen Verzehr bestimmt" steht auf ihnen. Als Leonie sie öffnet, geht das Licht an. Ein Bewegungssensor. Aber niemand kommt in den Hof gerannt, um zu fragen was sie hier macht, niemand blickt neugierig aus dem Fenster der umliegenden Häuser, um nach dem Rechten zu sehen.

Aus der ersten Tonne fischt Leonie eine Packung Brot. Kurz leuchtet sie die Verpackung mit dem Handy ab. Dann packt sie das Brot in eine ihrer Plastiktüten. Brot schimmelt schnell, aber dieses hier sieht noch okay aus.

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Leonie, 24 Jahre alt und Jurastudentin aus München, geht containern. Freundinnen aus Leipzig haben ihr das vor drei Jahren mal gezeigt, seitdem zieht sie etwa einmal pro Woche los und nimmt sich aus den Mülltonnen der Supermärkte Lebensmittel, die zwar abgelaufen, aber noch nicht schlecht sind. Sie geht immer erst los, wenn es schon dunkel ist und immer holt sie nur ein paar Tomaten oder Obst. Das Containerte ist ein Zusatz zu dem, was Leonie regulär in den Läden einkauft.

Leonie containert auch, weil das Essen aus der Tonne nichts kostet. Aber vor allem tut sie es, weil es, wie sie sagt, ein Wahnsinn ist, wie viele Lebensmittel hierzulande weggeworfen werden, nur wegen ein paar Flecken oder Druckstellen. "Bevor das Essen im Müll landet, esse ich es lieber", sagt sie. Leonie nimmt ausschließlich Sachen, die andere entsorgt haben. Sachen, die von ihren vorherigen Besitzern nicht mehr gewollt werden. Die in die Tonne geworfen wurden, weil niemand mehr für sie Verwendung hat. Und trotzdem stellt sich die Frage: Ist das, was Leonie macht, legal?

Der nächste Deckel fliegt gegen die Hauswand, eine faulige Wolke zieht aus der Tonne. Der Behälter ist bis oben hin voll mit Obst- und Gemüseabfällen. Mit den Händen wühlt sich Leonie durch verwelkte Salatköpfe und angeschimmelte Auberginen. Sie trägt keine Handschuhe. Einmal hat sie mit der bloßen Hand mitten in einen faulenden Hähnchenschenkel gelangt. Seitdem guckt sie nur noch an der Oberfläche. Leonie ist Vegetarierin.

Sie würde sich nicht ekeln, hat sie vorhin gesagt. Aber jetzt an der Tonne gibt sie zu, dass doch auch ein bisschen "Ih" dabei sei. "Aber nicht so schlimm, dass ich die Sachen nicht essen würde." Schlecht sei ihr davon noch nie geworden. Zwei Plastiktüten füllt sie bis oben hin mit Obst und Gemüse aus der Tonne. Aus den Bananen macht sie noch am selben Abend Bananenmilch. Leonie studiert Jura an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU). Deshalb soll ihr Nachname in dieser Geschichte nicht erscheinen. Man weiß nie, wie Behörden oder Anwaltskanzleien im Vorstellungsgespräch reagieren, wenn sich herausstellt, dass sich die Bewerberin von Supermarktabfällen ernährt. Vor Freunden und Familie aber geht Leonie offen damit um, dass sie containert. Die Eltern finden es komisch, die Oma super.

Ausgerechnet Jura. Denn das Mitnehmen der Lebensmittel aus dem Supermarktmüll ist eine rechtliche Grauzone. Sind die Tonnen unverschlossen und frei zugänglich, ist Containern nicht strafbar. Werden die Abfälle aber auf dem Supermarktgelände gelagert und etwa durch einen Zaun geschützt, kann der Filialleiter eine Anzeige wegen Hausfriedensbruchs stellen. Die wenigsten dieser Fälle landen allerdings vor Gericht. Die Münchner Polizei teilt auf Anfrage mit, Containern sei kein polizeirelevantes Delikt. "Kaum ein Fall wird zur Anzeige gebracht", sagt eine Sprecherin.

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Und trotzdem müssen sich zwei junge Frauen aus Olching voraussichtlich im Dezember wegen besonders schweren Diebstahls vor dem Landgericht Fürstenfeldbruck verantworten. Sie hatten eine abgeschlossene Tonne mit einem Vierkantschlüssel geöffnet, die zuständige Staatsanwaltschaft München II sieht darin einen schweren Fall des Diebstahls und erkennt ein öffentliches Interesse, den Fall weiterzuverfolgen, obwohl der Supermarktleiter seine Anzeige zurückgezogen hat.

Juristisch sei der Fall ihren Augen nicht ganz so klar, sagt Leonie. Moralisch kann sie das keinesfalls nachvollziehen. Keine Privatperson käme doch auf den Gedanken, Besitzansprüche auf seinen Haushaltsmüll anzumelden. Warum sollten das dann Unternehmen dürfen? "Die Supermärkte sollen wohl davor geschützt werden, dass man nicht mehr bei ihnen einkauft, wenn man containert. Aber das ist doch total konstruiert und viel zu abstrakt", findet sie.

Klack. Die dritte Tonne ist offen. Leonie holt ein Paket Karotten heraus, originalverpackt. Die meisten von ihnen sind in Ordnung, nur ein paar davon wird sie später wegschmeißen. Leonie packt noch zwei Puddings ein, die sie zwischen dem Gemüse gefunden hat. Dann sind alle Tüten voll. Mit einem dumpfen Scheppern fliegt der Deckel auf die Tonne. Leonie sagt, sie sei eine "Soft-Containerin". Über Zäune klettern oder Tonnen knacken, wie es die zwei Frauen aus Olching getan haben, das würde sie nicht. Die Gefahr, trotz der meist lockeren Rechtsauslegung Probleme zu bekommen, ist ihr zu groß. Theoretisch könnte es passieren, dass sie später einmal nicht in den Staatsdienst übernommen wird, weil sie schimmlige Trauben aus einer Tonne gezogen hat. Besonders schwerer Diebstahl könnte dann im schlimmsten Fall in ihrem Führungszeugnis stehen. Niemand wird mit so einer Vorstrafe Richter oder Staatsanwalt.

Für Leonie hat das Containern noch einen weiteren Vorteil: Kauft sie im Supermarkt ein, achtet sie darauf, keine in Plastik verschweißte Ware und nur saisonale oder regionale Produkte zu kaufen. Bei den Sachen aus den Tonnen hat sie dagegen kein schlechtes Gewissen, wenn Plastik drumherum ist. In der Tonne gelandet ist dieser Verpackungsmüll ja ohnehin schon.

Und deshalb liegen jetzt, Anfang November, Himbeeren auf der Anrichte in ihrer Küche. Daneben stapeln sich Paprika, Auberginen, Tomaten, Bananen. Alles ein bisschen brauner, als man es aus den Supermarktregalen kennt und alles ein bisschen schrumpeliger, als man es gern hätte. Aber das meiste ist essbar. Die Bananen schmeißt Leonie in eine Schüssel und zerkleinert sie mit einem Pürierstab. Mühelos arbeitet sich die Schneide durch die weichen Früchte. Dann gießt Leonie die Milch dazu. Aus dem Gemüse will sie ein Curry kochen. Den Reis dazu wird sie kaufen.

© SZ vom 12.11.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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