Coldplay in München:Rausch ohne Folgen

Das Publikum kommt nur, um belogen zu werden: Das Konzert von "Coldplay" im Reitstadion Riem.

Sebastian Gierke

Chris Martin hat den Text vergessen. Und das, obwohl der Coldplay-Sänger jetzt schon seit 15 Monaten mit seiner Band auf Welttournee ist, über 150 Konzerte gegeben hat, um "Viva La Vida" zu promoten, das bestverkaufte Album im Jahr 2008 weltweit. Er hat den Song schon Hunderte Male gesungen.

Coldplay in München: Bringt das Publikum zum Toben: Chris Martin, der Sänger von Coldplay.

Bringt das Publikum zum Toben: Chris Martin, der Sänger von Coldplay.

(Foto: Foto: ddp)

Doch jetzt rutscht er auf dem Hocker vor seinem Klavier hin und her, streicht sich unsicher mit der Hand durch die Haare, lächelt schüchtern. Das Publikum kreischt. Martin setzt neu an, bricht ab, improvisiert ein paar Zeilen. Das Publikum tobt.

Denn auf der gewaltigen Bühne sitzt jetzt ein scheuer Mann, der gar nicht wie ein unnahbarer, unhinterfragbarer Star wirkt. Trotz Glitter, Glamour, Gigantomanie. Diesem Kerl da oben, dem fühlt man sich plötzlich nahe.

Auch in London, Amsterdam, Berlin

Chris Martin hat in Riem den Text vergessen, er hat ihn auch in London vergessen, in Amsterdam, in Berlin . . . Beinahe bei jedem Coldplay-Konzert bringt er das Publikum so zum Toben. Denn ganz egal, ob er die Texthänger absichtlich einbaut oder einfach geschehen lässt: Das Publikum von Popkonzerten liebt es, belogen zu werden, auf die Konzerte von Coldplay kommt es überhaupt nur deshalb. Um belogen zu werden. Es will, dass einem die Empfindsamen da auf der Bühne eine herzergreifende Märchengeschichte von ganz großen Gefühlen, von Freiheit, Liebe und Erlösung erzählen. Zu Beginn des Konzertes wird Eugène Delacroix' Freiheitsgöttin auf den Bühnenhintergrund projiziert. "Ein großer Gedanke hat diese gemeinen Leute geheiligt", schrieb Heinrich Heine einst über die Menschen, die der Barbusigen folgen. Und weil Chris Martin absolut sicher zwischen Gefälligkeit und Glaubwürdigkeit balanciert, eint er sein Publikum im großen Gefühl.

Coldplay sind eine hervorragende Stadionband. Ganz egal, was man von Musik und Band ansonsten hält, selbst wenn man sie langweilig findet und sogar unerträglich, wie die New York Times: In einem vollen Stadion kann man sich dem Strudel von Gefühl und Dringlichkeit kaum entziehen.

Das Pathos des Jetzt

Der Psychoanalytiker Jacques Lacan hat das "das Reale" genannt. Dieses Reale hat nichts mit Realität zu tun, sondern ist der unauflösbare Rest, das Unerklärbare und Absolute. Ein Rauschmoment. Coldplay sind Meister dieses inszenierten Augenblicks. Die Show ist aufwendig und dramaturgisch perfekt, inklusive Ausflug ins Publikum, Konfettiregen und Feuerwerk.

Die Band beherrscht das Pathos des Jetzt, schafft es für die Dauer des Konzertes, die Gegenwart gegenwärtiger erscheinen zu lassen. Da ist es egal, dass das Publikum die Lüge durchschaut und weiß, dass heute im Pop nichts so industrialisiert ist wie der erlebte Augenblick: Man lässt sich gern betören.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: