Süddeutsche Zeitung

Co-Abhängigkeit:Zu viel Empathie stützt die Sucht

Wut und Scham, Hilflosigkeit und Schuld: In Familien mit Drogenabhängigen leiden auch Angehörige unter der Suchtkrankheit. Wie Eltern in München versuchen, ihre Co-Abhängigkeit zu überwinden.

Von Andrea Schlaier

Mein Gott", sagt die Mittfünfzigerin und hebt den Blick von ihren Händen: "Er war ein Sandwich-Kind und immer schwieriger als seine Geschwister. Und dass er oft so aufbrausend reagiert hat, hab' ich auf die Pubertät geschoben." Nie wäre sie draufgekommen, dass etwas anderes dahinter stecken könnte. "Ganz davon abgesehen, hab' ich zu der Zeit selbst genug Probleme gehabt."

Die dreifache Mutter steckte mitten in der Scheidung und war froh, dass die Kinder auf dem Gymnasium gut mitgekommen sind. Bestes Umfeld, bürgerliche Beamtenfamilie, gesicherte Verhältnisse, bis auf die in die Brüche gehende Ehe. "Und dann", sagt die Frau und gibt einen Laut von sich, der in guten Zeiten als kurzer Lacher durchgehen könnte, "dann hat er doch tatsächlich noch andere Eltern über Drogen aufgeklärt. Ich war stolz auf meinen Sohn."

Es lag außerhalb ihrer Vorstellungskraft, dass der Bub schon mit 14 das erste Mal im Zeltlager gekifft hatte und vor der Schule Hasch-Kaba verkaufte. Johanna Brüx (Name von der Redaktion geändert) sitzt in einem Raum des Alten-und Servicezentrums München-Laim, einem frisch sanierten Haus inmitten einer in die Jahre gekommenen sozialen Wohnsiedlung.

Hier trifft sich alle zwei Wochen der Elternkreis suchtkranker und suchtgefährdeter Söhne und Töchter München e. V. Die Teilnehmer aus dem Großraum München haben eines gemeinsam: Ihre Kinder sind suchtkrank, und zwar seit Jahren oder Jahrzehnten. Die neun Personen, die sich an diesem Abend an den zusammengeschobenen Resopal-Tischen getroffen haben, kennen sich teilweise seit Jahrzehnten. Das älteste Sorgenkind hat gerade 50. Geburtstag gefeiert.

"Die ganz normale Drogenkarriere"

Heiner Karlsen (Name von der Redaktion geändert) ist Vorsitzender des Vereins und moderiert den Gesprächskreis. Ein freundlicher Mensch, der die Grenze zur Heiterkeit selten überschreitet und Neulinge bedachtsam mit den Regularien der Runde vertraut macht. Vor ihm, dem Herrn im Rentenalter mit grauen Schläfen und einer Lederweste über dem karierten Flanell-Hemd, liegt ein Ordner mit Korrespondenzen, Flyern von Beratungsstellen und wissenschaftlichen Texten über die Zersetzungskraft von Drogen.

Hinter Heiner Karlsen liegt ein Leben, das der Verzweiflung, der Wut, der Hilflosigkeit und schließlich tiefer Melancholie viel Raum einräumen musste. Seine beiden Söhne fingen an zu kiffen, als sie gerade 18 geworden waren. "Die ganz normale Drogenkarriere: Cannabis, Heroin, Alkohol, Bulimie." Einer der beiden ist nach sieben Jahren als körperliches Wrack an einer Überdosis gestorben. Der andere versucht mühevoll, mit seiner Krankheit zurecht zu kommen. Er ist seit 17 Jahren clean - nach der dritten Therapie. Abhängig bleibt er jedoch sein Leben lang.

"Er hat Verantwortung für sein Leben übernommen", sagt der Vater. Der Satz gilt im Elternkreis als erstrebenswerte Losung. "Eines der wichtigen Dinge, die wir lernen müssen", sagt Heiner Karlsen. "Erstens: Wir haben ein krankes Kind, kein böses. Zweitens: Wir sind machtlos, und auf den Gedanken, selbst etwas falsch gemacht zu haben, gibt es nur eine Antwort: Wir können die Vergangenheit nicht ändern. Die Kinder müssen selbst Verantwortung für ihr Problem übernehmen, und wir dürfen uns nicht mit abhängig machen."

Hilfe für Angehörige

Der Elternkreis suchtkranker und suchtgefährdeter Söhne und Töchter e.V. München trifft sich jeden zweiten und vierten Donnerstag im Monat um 19 Uhr im Alten- und Service-Zentrum München Laim, Kiem-Pauli-Weg 22, 1. Stock, sowie jeden ersten Freitag im Monat, 19 Uhr, in der Hoffnungskirche, München-Freimann, Carl-Orff-Bogen 217. Weitere Informationen finden sich auf der Website des Vereins unter www.elternkreis-muenchen.de.

Außerdem finden Betroffene Hilfe bei verschiedenen Drogenberatungsstellen, beispielsweise bei dem Verein "Condrobs" unter der Telefonnummer 0800/34 10 100 (montags bis freitags 10 bis 17 Uhr) oder im Referat für Gesundheit und Umwelt (Paul-Heyse-Str. 20, 089/233-47200), wo immer donnerstags von 15 bis 17 Uhr und freitags von 10 bis 12 Uhr eine offene Sprechstunde angeboten wird. Informationen und Unterstützung gibt es außerdem beim Müttergenesungswerk (Adressen unter www.muettergenesungswerk.de) oder bei der Münchner Sucht-Hotline (089/28 28 22, rund um die Uhr), aber auch bei der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (www.dhs.de oder unter Telefon 02381/9015-0). SZ

Fast alle, die hier herkämen, würden sich irgendwann einmal mit der Schuldfrage herumquälen. Der Vereinsvorsitzende nimmt sich da nicht aus: "Ich weiß, dass ich in der Erziehung Fehler gemacht habe, die waren aber nicht der Auslöser." Das Nachdenken darüber lähme. Wer aber ein suchtkrankes Kind daheim habe, könne Lähmung nicht brauchen.

Das Zimmer im Alten- und Servicezentrum ist wie ein Schutzraum für die betroffenen Eltern. "Hier kann man über Dinge reden, für die man draußen keine Gesprächspartner hat", sagt einer. Im Gegensatz zu klugen Tipps von Nachbarn, der Großfamilie oder sonst wem im Umfeld gebe es im Elternkreis keine guten Ratschläge, sagt Johanna Brüx. "Wir wollen wissen, wie die anderen betroffenen Eltern umgehen mit ihrer Ratlosigkeit, ihren Schuld- und Schamgefühlen, ihrer Hoffnung und ihren Rückschlägen."

Hier gebe es Antwort auf die Frage, woran man erkennen könne, ob das eigene Kind Suchtmittel konsumiere und wie man sich als Vater und Mutter dann verhalten solle. Auch wenn das Motto "Eltern helfen Eltern" laute, seien auch Angehörige oder Partner von Kranken - welcher Sucht auch immer - willkommen.

Die Mütter und Väter, die an diesem Elternkreis teilnehmen, sind längst Experten - nicht nur für Familienleid, sondern auch, was Suchtkrankheiten angeht. Sie tauschen sich darüber aus, welche Beratungsstelle etwas taugt und wie überfordert die Mitarbeiter des Jugendamts oft sind. Hin und wieder laden sie auch Fachleute ein, Ärzte etwa, die ihnen erklären, wie die erste Heroinspritze in den Rezeptoren des Konsumenten ein neuronales Feuerwerk veranstaltet und das Gehirn dabei für alle Zeit irreversibel umprogrammiert wird.

Wie schließlich der Kick stirbt und der Schmerz die Herrschaft übernimmt. Wie medikamentöse Linderungsversuche neue Abhängigkeiten schaffen. Oder wie der Konsum von Haschisch das Immunsystem ihrer Kinder torpediert, ihnen Angst-Psychosen beschert oder sie für immer verändert hat. Kein Gast würde in dieser Runde auf die Idee kommen, die Liberalisierung von Drogen zu proklamieren.

"Kurz vor dem Abitur hat er die Schule geschmissen"

Neben Heiner Karlsen sitzt eine attraktive Frau mit langer Lockenmähne, roter Strickpulli, rote Hose. "Zu Studentenzeiten gab es bei uns kaum einen, der nicht mal einen Joint geraucht hat. Hasch hatte früher ja auch eine andere Qualität", sagt sie und lächelt dünn. "Aber heute weiß man nicht mehr, was drin ist."

Vor dem Gras war ihr Sohn, damals 16 Jahre alt, mit der Wasserpfeife eingestiegen. "Kurz vor dem Abitur hat er die Schule geschmissen." Er versuche sich gerade im dritten Anlauf am Fachabitur. "Ich glaube", sagt seine Mutter, "dass er momentan nicht kifft, aber ich kontrolliere es nicht mehr. Ich muss mich auch um mich kümmern."

Die Verharmlosung der Einstiegsdroge ist eines der Lieblingsthemen der Runde. Karlsen liefert sofort Zahlen, die belegen sollen, wie sich der Stoff in den letzten Jahrzehnten qualitativ verändert hat. Entscheidend sei der Gehalt des berauschenden Wirkstoffs Tetrahydrocannabinol (THC): "1968 lag der THC-Gehalt bei Cannabis bei zwei bis fünf Prozent. Heute sind es 20 Prozent." Im Elternkreis begrüßt man jede Veröffentlichung, die das publik macht, wie etwa neulich die im New England Journal of Medicine, in dem erörtert wurde, dass Kiffen weit weniger harmlos ist als lange angenommen. Das Suchtpotenzial der Droge werde chronisch unterschätzt.

Auch Annemarie Winzer (Name von der Redaktion geändert) hat die Unlust und Aggressionen ihrer Söhne zunächst auf die Pubertät geschoben - und nicht aufs Kiffen. Beide Jungs sind in die Szene gerutscht. Der Austausch mit anderen Betroffenen ist für Winzer immens wichtig, auch deshalb nimmt sie seit 2005 alle zwei Wochen daran teil. "Weit und breit gibt es keinen vergleichbaren Treffpunkt", sagt sie.

Beständig macht sie sich Notizen. Als sie an der Reihe ist, trägt sie vor: "Durch die Gruppe hier habe ich mein Verhalten geändert. Ich war stark co-abhängig." Was damit gemeint ist, weiß jeder im Raum: Zu viel Empathie mit den Verhaltensweisen der kranken Kinder stützt die Sucht. Die Gesprächsrunde ist auch dazu da, das eigene Verhalten zu überprüfen - und zu verändern. "Ich sage heute meinen Söhnen, ihr seid für euer Leben selbst verantwortlich", so Winzer. "Wenn ihr wollt, dass ich was mache, müsst ihr mir genau sagen, was."

Wer richtig und sinnvoll mit suchtkranken Angehörigen umgehen will, braucht das, was Karlsen "liebevolle Konsequenz" nennt: Man müsse versuchen, das Gespräch mit den Kindern aufrechtzuerhalten. Man müsse selbst klar sein, auch in der Ablehnung der Drogen. Aufgestellte Regeln müssten eingehalten werden.

Dabei sollten Eltern nicht versuchen, die Probleme der Kinder zu lösen. Bei manchen werden die Augen feucht, als Annemarie Winzer über ihre Emanzipation von den eigenen Kindern sagt: "Ich selbst will auch ein Leben führen, ein eigenes, ein gutes. Inzwischen gelingt mir das." Und doch, schiebt sie leise nach: "Es schmerzt schon, wenn alte Freunde meiner Söhne jetzt heiraten und eine Familie gründen."

"Etwa fünf Minuten" hat Heiner Karlsen jedem gegeben, um den eigenen Fall vorzutragen. Keine der Lebensgeschichten findet in diesen wenigen Minuten Platz. Nicht die des Vaters einer 27-jährigen Frau, der über das Leben seiner Tochter enttäuscht feststellt: "Das einzige, was sie jeden Tag machen muss, ist zur Apotheke laufen und sich die Drogensubstitution Subutex holen." Nicht die der Rentnerin, deren Sohn, inzwischen 50, nach Jahren plötzlich wieder vor der Haustür stand. "Mein Mann hat ihn gefragt: Wer sind Sie denn?"

Als der Sohn Geld verlangte, knallte die Tür wieder vor seiner Nase zu. Eine andere Frau erzählt von ihrem Sohn, der von Angstattacken gequält wird, sich ständig verfolgt fühle. Inzwischen hat er sich eine Wohnung um die Ecke gemietet, ist aber seit fünf Jahren erwerbsunfähig - mit 30 Jahren. Es ist nicht lange her, da hat sie den Kollegen endlich, nach all den Jahren, erzählt, warum es ihr oft so schlecht gehe: "Für mich war das eine Riesen-Erleichterung. Wir haben seither ein ganz anderes Arbeitsverhältnis."

"Bei uns wird es nie Friede, Freude, Eierkuchen geben"

Mitten drin sitzt eine Frau im Kostüm, vor ihr auf dem Tisch liegen Zeitschriften, deren Cover längst ausgebleicht sind. Mit "Der Kiffer von heute" ist eins überschrieben. Noch immer könne sie sich wegen derart "blöder" Publikationen aufregen, die zwar schon ein paar Jahre alt, aber mitverantwortlich seien, die Sucht gesellschaftlich cool zu reden. Dass es dennoch möglich ist, den Absprung rechtzeitig zu schaffen, zeigt das Beispiel eben dieser Frau und ihres Sohnes. "Vor knapp 20 Jahren merkte ich an meinem Sohn, der superklug und flink war, dass er plötzlich ziemlich doof wurde und mich immer mit diesen toten Augen angesehen hat."

Sie marschierte umgehend zur Drogenberatungsstelle, wurde an den Elternkreis verwiesen, und habe dort erst erfahren, was eigentlich los war. "Ich habe Pflanzen in seinem Zimmer gefunden und sie rausgerissen. Dann habe ich erfahren, dass er jeden Morgen vor der Schule einen Joint durchgezogen hat." Die Freunde hätten schon über ihn gelacht, weil er angefangen habe zu stottern. Den Kopf habe sie dem Filius daraufhin gewaschen und überall Rabatz geschlagen, in der Schule, bei Freunden. Der Junge drehte zwei Ehrenrunden in der Schule, ehe er sich wieder fing. Aber er fing sich. "Ich komme hierher, um den anderen Mut zu machen: Es muss nicht alles schieflaufen."

Mittlerweile sind drei Stunden vergangen. Das beherzte Fazit der Teilnehmerin hat die Stimmung etwas aufgeheitert. Johanna Brüx erhebt das Wort. Nach Jahren schwerer Beschaffungskriminalität und als Dealer, nach einer Zeit im Gefängnis und einer Krebserkrankung bemühe sich ihr Sohn, wieder auf die Beine zu kommen. Täglich telefoniert er mit der Mutter. Es wirkt, als genösse Brüx den häufigen Kontakt, auch wenn sie weiß: "Bei uns wird es nie Friede, Freude, Eierkuchen geben."

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Quelle:
SZ vom 05.08.2014/rus
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