Süddeutsche Zeitung

Lesung:Das unendliche Präsens

Claudio Magris denkt in seinem Erzählband "Gekrümmte Zeit in Krems" über das Alter nach.

Von Antje Weber

Ein älterer Kafka-Experte wird bei einer Konferenz an eine heimliche Liebe seiner Schulzeit erinnert; was damals Fantasie blieb, wird für ihn Jahrzehnte später durch ein Telefonat mit der Realität verknüpft. Das bringt den Erzähler der Titelgeschichte von Claudio Magris' Band "Gekrümmte Zeit in Krems" dazu, über Raum und Zeit nachzudenken - und sich zu fragen: "Künftige und vergangene Zeiten, ein einziger Punkt, eine einzige Zeit... Ein unendliches Präsens?"

Wie sich die Zeit insbesondere im Alter zu krümmen scheint, wie Vergangenheit und Gegenwart sich überlagern - das ist Thema in allen fünf Erzählungen, die nun in einem schmalen Hanser-Band gebündelt vorliegen. Wenn man 83 Jahre alt ist, liegen Altersreflexionen nahe - und es sind feine, leise Erzählungen, die Magris gelungen sind, eng mit seinen Lebensthemen verbunden. Immer scheint die Stadt Triest, in der er selbst lebt, als Hintergrund in diesen Geschichten auf. Immer wieder lässt dieser große europäische Intellektuelle, nicht nur für seine profunde "Donau"-Fluss-Biografie vielfach ausgezeichnet, auch das Meer am Ende der Straßen aufblitzen.

Der bedrängenden Wirklichkeit entkommen

Dieses Meer wirkt in seiner Grenzenlosigkeit auf mehr als einen der durchweg alten Herren dieser Erzählungen geradezu bedrohlich; auf seinen Spaziergängen zögert zum Beispiel ein ehemaliger Triester Unternehmer den Anblick "dieses grenzenlosen Blaus" so lange wie möglich hinaus. Er sieht überhaupt das Alter, darin dem Meer ähnlich, als "Voranschreiten, um sich dann zurückzuziehen: Man wagte sich auf ungekanntes Terrain, um der Wirklichkeit zu entkommen, die einen von allen Seiten her bedrängte, schonungslos und aufdringlich".

Diese Wirklichkeit umfasst bei einem anderen Protagonisten, einem jüdischen Geigenlehrer, besonders viele unterschiedliche Räume in der Zeit. Das einstige Habsburgerreich ist in seinem Gedächtnis ebenso verankert wie die Verfolgungen von Juden bis hin zum Holocaust; die Flucht durch unzählige Länder, vom polnischen Biłgoraj nach Triest, Palästina, Amerika und wieder Triest, hat sich diesem Musiker eingebrannt, der seinen Blick auf das vielschichtige Mitteleuropa gerne in eine Komposition gebannt hätte.

Das ist ihm nicht gelungen, und wie all diese Protagonisten zieht er sich langsam aus dem Leben zurück - im Gegensatz zu ihrem Schöpfer Claudio Magris, der nun zu einer Lesung nach München reist. Anders als etwa der ehemalige Unternehmer einer seiner Geschichten scheint Magris sich nicht nur an Ritualen festhalten oder gar in einer Portiersloge verstecken zu wollen. Nach zwei Jahren pandemischen Stillstands gilt für ihn vielleicht eher dieser Satz: "Nun war die Welt ein Hund, der ihn nicht mehr beißen konnte, sondern mit ihm herumtobte und spielte."

Claudio Magris, Lesung (deutsch-italienisch), Dienstag, 24. Mai, 19 Uhr, Italienisches Kulturinstitut, Hermann-Schmid-Straße 8

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