Die 42. Show des Entertainment-Giganten:Eisiger Abgrund der Seele

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Sturz in die Anderswelt: Die Hauptfigur Crystal bricht durch eine Eisfläche ein und taucht in den dunklen See ihrer Seele ein. (Foto: Matt Beard Photography)

"Crystal" erfindet Schlittschuhkunst, Akrobatik und Schneeballschlachten neu. Die schnellste und riskanteste Show des Cirque du Soleil gastiert in München und Nürnberg.

Von Michael Zirnstein

Wann wird's mal wieder richtig Winter? So mit Schneeballschlacht und Schlittschuhlauf am zugefrorenen Weiher, wie es früher einmal war. Etwa wie es Pieter Bruegel der Ältere 1565 in seinem Gemälde bezeugt hat. Gut, so lange ist die letzte Frostperiode nun auch wieder nicht her, aber angesichts der angebrochenen Heißzeit auf dem Planeten muss man schon nostalgisch bibbern, schaut man den Eistänzern vor Beginn der Show "Crystal" zu. Eine kanadische Winterwunderwelt will der Montrealer Cirque du Soleil da in die Mehrzweckhallen der Welt zaubern. Ein freudiges Gleiten und Kratzen, noch ganz ohne artistische Kapriolen, noch ohne das Einbrechen unter die Eisfläche und das Abtauchen der rothaarigen Hauptfigur Crystal in ihre Seelengründe - während die Gäste allmählich auf den Tribünen Platz nehmen. Zum Wegträumen schön. Und dann schlägt der erste Schneeball beim Sitznachbarn ein, und ein paar Kristalle spritzen herüber.

"Crystal" ist die 42. Show des Cirque du Soleil in dessen 40. Jahr. 1982 gründete Guy La Liberté im Örtchen Baie-Saint-Paul eine Straßentheatertruppe, zum 450. Jahrestag der Entdeckung Kanadas erschuf er für die Stadt Quebec ein Spektakel namens "Cirque du Soleil" - der Keim für den größten Show-Mammutbaum der Welt. Es dauerte aber bis 2017, ehe sich der Zirkus der Sonne aufs Eis wagte. Saltos und Metallkufen, Körperverbiegen und Kältestarre, Menschentürme und Glätte - wie sollte das zusammenkommen? Solche Widersprüche entfachten das Ideen-Feuer des Kreativteams erst recht.

Kanadische Winterwunderwelt: Der Cirque du Soleil kombiniert in seiner Show "Crystal" Schlittschuhkunst, Akrobatik und Schneeballschlachten. (Foto: Matt Beard Photography)

Gut, man hätte auch bei der Konkurrenz spicken können. "Holiday on Ice" macht Schlittschuh-Revuen seit 1943 und wurde damit Weltrekordhalter im Showbiz. 320 Millionen Menschen haben eine Vorführung des US-Eis-Riesen gesehen (180 Millionen den Cirque du Soleil): Und auch dabei sind bereits seit einigen Jahrzehnten Luftnummern und Bildertheater Pflichtprogramm, wie man auch auf der aktuellen Tournee "A New Day " mit dem Weltmeister/Olympiasieger-Paar Gabriella Papadakis und Guillaume Cizeron bestaunen kann (etwa von 16. bis 19. Februar in der Münchner Olympiahalle).

Bei solchen Vergleichen kommt bei den Cirque-Gewaltigen schnell frostige Stimmung auf. Man hätte durchaus auch Mehrfach-Weltmeister zu bieten: Kurt Browning und Benjamin Agosto sind für sämtliche Kufenkunst in "Crystal" verantwortlich. Und es gibt auch hier zum Finale einen großen Menschenkreisel, allerdings stehen da noch Artisten auf den Schultern einiger Eistänzer. Aber, klipp und klar: "Das ist keine Eislauf-Revue. Das ist eine ganz neue Dimension des Zirkus'", sagt Robert Tannion, der künstlerische Direktor. Der Australier hat erst mit 18 Jahren seinen ersten Schnee gesehen und später, übersiedelt nach Spanien, auch kaum welchen, höchstens mal auf Tour mit dem Circus Oz, wenn er etwa mit "Modern Citizen" einen Monat lang auf dem Münchner Tollwood-Festival gastierte. Aber er weiß sehr wohl, was das Eis in die Manege des Sonnen-Zirkus gebracht hat: Tempo. So schnell und riskant war der Cirque du Soleil noch nie.

Fließende Übergänge zwischen den Künsten: Eislauf und Akrobatik gehen bei "Crystal" Hand in Hand. (Foto: Matt Beard Photography)

Bei der Nummer "Hockey" mag Tannion meist gar nicht zuschauen. Weil er da immer an abgetrennte Finger denken müsse. Dazu kam es noch nie, denn die Artisten, oder besser: Stuntmen sind ziemlich bruchsicher: Sie kommen alle vom Eishockey und der Rollerblade-Akrobatik, stürzten sich auch schon bei "Red Bull Crushed Ice" in München zum großen Gerempel in den steilen Eiskanal. Bei Crystal rasen sie auch mal eine haushohe Rutsche hinab, machen dicht an dicht in einem Rampen-Parcours Saltos und Schrauben, und das alles mit einem wahnwitzigen Speed. Wenn sie dann noch breakdancen, zu keltischem Pop steppen wie der "Lord of the Dance", sich eine silberne Kugel zupassen, und man am Ende erst merkt, dass sich das ganze kuriose Eishockey-Match in einem riesigen Flipper abspielt - dann ist das durchaus eine kleine Sensation, auf jeden Fall etwas Einzigartiges, wie es nur der Cirque du Soleil erschafft.

Dieses kreative Spiel auf allen Ebenen ist sein Kapital. Das nimmt ihm nichts und niemand, auch keine Pandemie. Als wegen Corona alle Shows eingefroren werden mussten, wie "Totem" im großen weißen Zelt in München, musste der Konzern Insolvenz anmelden und 3500 Mitarbeiter entlassen. Weltraumtourist La Liberté und die Firmeneigner aus Dubai und China einigten sich mit den Gläubigern, es gab ein Rettungspaket von 200 Millionen Dollar von der Regierung, und so laufen inzwischen wieder 19 Shows weltweit (und auch Helene Fischer kann mit dem Cirque auf ihrer Tournee im Jahr 2023 kooperieren).

Zum Glück auch für Stina Martini, die während der Pause als Volksschullehrein daheim in Graz arbeitete. Was ihr viel Freude machte, aber ihr großer Traum sind doch die Eis-Shows. Die dreifache österreichische Meisterin war schon bei "Disney on Ice" und auf RTL bei "Dancing on Ice", aber der Cirque sei einfach eine ganz andere Welt. Nicht nur, weil sie hier als Teil der Eislaufgarde zum ersten Mal ihre Schlittschuhe bezahlt bekomme und zwei Stunden beim Schminken sitze, erzählt sie, sondern vor allem sei es "cool", nicht nur mit Eisläufern unterwegs zu sein. Man bringe sich gegenseitig etwas bei, die Akrobaten lehren ihnen Jonglieren und Handstände, und sie zeigen denen, wie man sich auf Kufen bewegt. Oft stehen die Artisten auch mit Plastikkrallen an den Händen auf dem Eis.

Nur in diesen fließenden Übergängen der Künste kann so eine Traumwelt entstehen. Wenn das Arielle-haarige Problemkind Crystal wie eine Alice im Wunderland aus dem engen Familienalltag durch das Eis einbricht in eine Anderswelt unter Wasser, wo das im Spiel mit ihrem Schatten-Ich, ihren Mensch gewordenen Reflexionen und Erinnerungen ihre schöpferischen Kräfte weckt - das ist alles recht psychologisch ... Oder einfach nur magisch: wenn eine der Crystals sich vom Eis auf ein Trapez schwingt, in die Höhe aufsteigt, über eine aufs Eis projizierte Landschaft fliegt, die beim zweiten Hinsehen aus Alltagsgegenständen wie einem Zug aus Büchern besteht, und zu Sias Selbstermächtigungs-Hit "Chandelier" (gespielt natürlich von einer kunterbunten Kapelle) durch die Luft wirbelt - immer mit Schlittschuhen an den Füßen.

Wie will der Zuschauer da wieder auf dem Boden der Tatsachen landen? Durch Humor. Und eine handfeste Schneeballschlacht. Die Aufgabe übernimmt der Clown. Nate Cooper aus Pennsylvania ist der Beste dafür, nicht nur weil er Rollschuh- und Stepp-Tanzen und Jonglieren kann, sondern auch weil ihn der große Slava mit seiner legendären "Snow Show" einst darauf brachte, Clown zu werden. Coopers Lieblingsaufgabe: perfekte Schneebälle formen. Er macht sie eimerweise. Fluffig und erst kurz vor der Show, damit sie nicht wehtun. Dann legt er los, schmeißt sie mit dem Publikum hin und her, bis alle wieder Kind sind. Etwas Angst habe er, dass die Leute im Winter eigenen Schnee von draußen in die Halle bringen, scherzt er. "Ich will nicht, dass es eskaliert." Denn im Grunde geht es bei der ganzen Eis-Sache doch darum: "Jeder Schneeball hat das Potenzial Freude zu bringen."

Cirque du Soleil, "Crystal", Mi.-So., 12.-16. Okt., Nürnberg, Do.-So., 3.-6. Nov., München, Olympiahalle

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