Zirkus:Die Mutter aller Leopoldinchen

Zirkus: "Hier fließt alles zusammen": Doro Auer, Schneiderin, Kostümbildnerin sowie studierte Theater- und Erziehungswissenschaftlerin, leitet seit 18 Jahren den Circus Leopoldini.

"Hier fließt alles zusammen": Doro Auer, Schneiderin, Kostümbildnerin sowie studierte Theater- und Erziehungswissenschaftlerin, leitet seit 18 Jahren den Circus Leopoldini.

(Foto: Alessandra Schellnegger)

Dorothea Auer leitet eine Zirkusschule für Kinder und Jugendliche. Seit sie als Dreijährige an der Spitze einer Menschenpyramide stand, ist sie von Akrobaten, Jongleuren und Clowns hingerissen.

Von Barbara Hordych

Es ist ein sehr aufmerksamer Blick, mit dem Dorothea Auer ihre Kinder und Jugendlichen umfasst. "Ich liebe es, die Hülle im Hintergrund zu sein", sagt die zierliche 59-Jährige mit dem langen, dunkelblonden Haar. Wer bei Doro Auers Circus Leopoldini anfängt, ist gerade mal neun oder zehn Jahre alt, Viertklässler und ein "Leopoldinchen". Viele bleiben bis zum Schulende, meist bis zum Abitur, und wirken dann noch im Leopoldini-Varieté mit. Manche aber wollen überhaupt nicht gehen und bleiben Auer und ihrem Verein "Circus Leopoldini" auch als junge Erwachsene verbunden, als Künstler oder Trainer. Wie eine ihrer Töchter, die neben dem Jura-Studium noch weiter die Leopoldinchen trainiert. Oder wie Lukas Brandl, 27, der mit seinem Mix aus Tanz, Magie und Jonglage in diesem Sommer zum Deutschen Meister der Zauberkunst gekürt wurde.

Doro Auer hat unzählige junge Menschen mit ihrer Zirkusschule begleitet, einen eigenen Kosmos geschaffen, angedockt an der Waldorfschule in der Leopoldstraße. Dort führt sie schnellen Schrittes vier Stockwerke treppauf, hoch in ihren Fundus, wo sie seit den Anfängen des Circus Leopoldini die Kostüme entwirft und selbst schneidert. An Garderobenstangen hängen sorgfältig arrangiert Mehrfachgarnituren von Hosen, Hemden, Glitzerroben, Plüsch- und Clownskostümen. An den Wänden stapeln sich beschriftete Kisten mit kleineren Requisiten. Geprobt wird treppab, in der im Keller gelegenen Turnhalle, die sie täglich ab 16 Uhr nutzen kann. "Das ist natürlich großartig, dass wir sie unentgeltlich zur Verfügung gestellt bekommen", so Auer.

Vor 18 Jahren startete das Projekt als kleine Schulzirkus-AG, inzwischen ist sie unter Auers Leitung zu einer Kinder- und Jugendzirkusschule herangewachsen, in der rund 150 Talente mit Leidenschaft trainieren. "Wir arbeiten nicht nach dem kurzfristigen Workshop-Prinzip", betont die Direktorin. Stattdessen durchlaufen die Kinder unter Anleitung von Profis von der vierten bis zur achten Klasse alle Zirkusdisziplinen, von den Bewegungskünsten Akrobatik, Jonglage und Balance bis zu Theaterelementen, Musik und Tanz. Erst nach der achten Klasse dürfen sie sich dann auf einem Gebiet spezialisieren. Mehrmals im Jahr zeigen die jungen und älteren Zirkustalente dann in Shows ihr Können, bei Vorstellungen im Zelt im Westpark oder im Theater Leo 17. Immer wieder sind ihre Schüler und Schülerinnen auch im Talent-Wettbewerb des Gop-Varietés vertreten.

Zirkus: Bühne frei: Mehrmals im Jahr treten die jungen Zirkuskünstler auf, hier 2018 im Theater Leo 17.

Bühne frei: Mehrmals im Jahr treten die jungen Zirkuskünstler auf, hier 2018 im Theater Leo 17.

(Foto: Privat)

Zwei Drittel des Zirkusnachwuchses kommen von der Schwabinger Waldorfschule, insbesondere die Jüngeren, die direkt nach der Schule zu Auer gehen. Aber ihr Verein "Circus Leopoldini" ist offen, das ist Auer wichtig, und so bilden das übrige Drittel Jugendliche aus anderen Schulen. "Zirkuskünste werden auch an anderen Schulen unterrichtet; aber meistens ist dort mit der achten Klasse Schluss. Wer dann weitermachen möchte, muss sich woanders hin orientieren - und kann beispielsweise bei uns Mitglied werden".

Doro Auer selbst hat die Waldorfschule auf der Stuttgarter Uhlandshöhe besucht, berühmt als die erste Waldorfschule der Welt. Eine Freundin ihrer Mutter bot dort eine Zirkus-AG an, "auch das war etwas ganz Neues, die besuchten meine älteren Geschwister". Als sie eine Menschenpyramide bauten, wurde sie, die damals Dreijährige, als "Stern von Rio" verkleidet auf die Spitze gehoben. "Von da an war ich infiziert", sagt Auer und lacht. Später erlernte sie in dieser AG die Luftakrobatik. Nach ihrer Schulzeit absolvierte sie eine Ausbildung zur Herrenschneiderin, was wiederum die Basis für ihre Tätigkeit als Kostümbildnerin bildete. Die übte sie etwa an der Staatsoper Stuttgart, später am Theater in der Josefstadt in Wien aus. In Wien studierte sie dann Theater- und Erziehungswissenschaften. Bekam aber auch vier Töchter, "weshalb ich für rund zehn Jahre beruflich pausierte". Ihren Mann Moritz kennt sie noch aus der Stuttgarter Schulzeit, "auch wenn wir erst Jahre später zusammenkamen", sagt Auer. Wie sein Vater Fritz - der mit dem Zeltdach des Olympiaparks ein Wahrzeichen der Landeshauptstadt prägte - ist er Architekt. Und mit der Umgestaltung des Münchner Hauptbahnhofs betraut.

Mit Blick auf ihren Berufsweg konstatiert Auer: "Die einzelnen Tätigkeiten ergaben kein homogenes Bild, hatten aber alle irgendwie miteinander zu tun; erst hier, beim Circus Leopoldini, konnte alles zusammenfließen." Was fasziniert sie an den Zirkuskünsten so, was vermitteln sie? "Zentral sind für mich die sozialen Fähigkeiten, die bei uns gefördert werden: Respekt vor dem Körper des anderen, denn ganz wichtig ist es, sich nicht grob anzufassen oder zu verletzen", erklärt Auer. Das Miteinander und die Bewegung steigerten die Konzentrationsfähigkeit und weckten das Bewusstsein für den eigenen Körper. "Ganz oft bekomme ich von Lehrern die Rückmeldung, wie gut es sich auf ihre Klasse auswirkt, wenn einige meiner Leopoldinchen darin sind", sagt Auer. Die Disziplin beim Arbeiten und der Einsatz für die Gemeinschaft seien dann ausgeprägter. "Meine Kinder wissen einfach, dass andere darunter zu leiden haben, wenn sie sich nicht an Regeln oder Absprachen halten und dadurch eine Darbietung platzen lassen." Umgekehrt fördere das Training aber auch die Flexibilität. "Wenn jemand krank ist, muss die Nummer eben spontan umgebaut werden." Oder es heißt plötzlich: "Kannst du nicht einspringen?"

Während der Pandemie entstand der Film "Ein wundersamer Koffer"

Sie selbst kümmere sich besonders gerne um diejenigen, die etwa wegen ADHS schwer dazu zu bewegen sind, still an ihrem Platz zu sitzen. "Ich unterrichte ja die Sparte Clownerie und Schauspiel, und es ist erstaunlich, was gerade diese schwierigeren Kandidaten da an Witz und Einfällen beitragen, wenn man sie nur lässt", beobachtet Auer. Nicht nur diesen Kindern fehlte während der Pandemie die Zirkusschule sehr. Spricht man mit Auer darüber, dann überschattet sich ihr sonst so zuversichtlicher Gesichtsausdruck. "Diese Zeit hat mich und auch mein Team sehr viel Kraft gekostet", sagt sie. Denn für die Kinder sei diese Isolation schrecklich gewesen. "Besonders für die Jungs. Denn die kommen noch schlechter als die Mädchen mit der Einsamkeit zurecht." Mädchen, findet sie, "schaffen eher den Sprung, auch alleine weiterzuarbeiten, sich umzuorientieren. Jungs dagegen brauchen das Rudel, den Wettbewerb, sie müssen sich viel stärker körperlich spüren."

Auch da ließ sich Auer etwas einfallen. Schon nach zwei Wochen stellte sie erst auf Online-, später dann auf Outdoor-Training in kleinen Gruppen um. Keines ihrer Zirkuskinder habe sie verlieren, keinen und keine ihrer 25 Trainer entlassen wollen. Das war ihr eine Herzenssache. "Gerade weil ich weiß, dass dieser Verdienst für viele von ihnen existenziell ist", so Auer. Der Verein finzanziert sich laut Auer allein aus Mitgliedsbeiträgen und Spenden. Eine städtische Förderung gibt es nicht.

Eine weitere kreative Antwort auf die Zumutungen der Corona-Zeit ist der erste Leopoldini-Spielfilm "Ein wundersamer Koffer" (zum Trailer geht's hier), gedreht mit 150 Mitwirkenden in einzelnen Szenen und Kleingruppen im Englischen Garten. Darin geht es um eine kleine Zirkus-Putzfrau, die sich auf die Suche nach einem verschwundenen Zirkuszelt macht. Nur gut, dass die Leopoldinis alle wissen, wo Doro Auer ihr Zelt aufgeschlagen hat.

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