Chirurgie:Ein künstliches Gesicht für ein normales Leben

Epithese

Rüdiger Reinhardt sieht sich zum ersten Mal mit der Epithese.

(Foto: Manfred Neubauer)

Rüdiger Reinhardt verlor wegen eines Tumors sein linkes Auge und Teile seiner linken Wange. Er konnte nicht mehr in den Spiegel schauen - bis er Iris Schürer kennenlernte.

Von Ingrid Hügenell

Die Zeit nach den Operationen war hart. Rüdiger Reinhardt hatte wegen eines Tumors sein linkes Auge und große Teile seiner linken Gesichtshälfte verloren. Körperlich ging es ihm schlecht, wegen der Chemotherapie und der Bestrahlung, die auf die OPs folgten. Auch die Psyche litt. "Ich war wahnsinnig deprimiert, konnte mich nicht im Spiegel anschauen. Ich bin auch nicht rausgegangen", erzählt der heute 55 Jahre alte Mann, der in Unterhaching lebt.

Im Sommer 2016 war das. Es dauerte einige Monate, bis sich Reinhardt im November 2016, am Ende eines Reha-Aufenthalts, wieder in ein Lokal setzen und mit Genuss einen Kaffee trinken konnte. Manche der anderen Gäste hätten schon geschaut, sagt er. Reinhardt hatte das linke Glas seiner Brille abgeklebt, aber die Narben der transplantierten Haut waren trotzdem deutlich zu sehen.

"Die ersten Monate sind der Supergau", sagt Iris Schürer. Manchmal gehe sie in die Klinik, um den verzweifelten Patienten eine Perspektive zu geben. "Das ist ein Einschnitt und es verändert sich etwas im Leben, aber es muss nicht schlecht sein."

Schürer fertigt künstliche Gesichtsteile, sogenannte Epithesen. Sie versucht den Menschen Hoffnung zu geben, denen plötzlich Auge oder Nase, Ohr, Wange oder Lippen fehlen. Dazu zeigt sie Fotos von Patienten mit Epithesen, bei denen erst auf den zweiten Blick auffällt, dass die Gesichtsteile künstlich sind. Ihre Patienten litten an Krebs wie Reinhardt, häufig ist es Hautkrebs, andere hatten einen Unfall oder Verbrennungen. Schürer fertigt in ihrer Werkstatt in Iffeldorf (Landkreis Weilheim) in handwerklicher, eigentlich künstlerischer, Feinstarbeit 35 bis 40 individuelle Epithesen pro Jahr.

Am 11. Januar 2018 sitzt Reinhardt zum ersten Mal in ihrer Werkstatt. Schürer erklärt ausführlich das weitere Vorgehen, begutachtet die vier kleinen, zylinderförmigen Magnete, die rund um die Augenhöhle in den Knochen hineingeschraubt wurden. An ihnen wird die fertige Epithese befestigt.

Sie kann abgenommen werden, zum Duschen, Schlafen oder Schwimmen. Schürer prüft die kleinen Magnetzapfen, die aus der Haut herausschauen, berät Reinhardt zur Pflege der Haut, die an manchen Stellen leicht entzündet ist. Nach dem Vorbild von Reinhardts rechtem Auge wird sie die Epithese aus Spezial-Silikon lebensecht gestalten.

Epithese

Iris Schürer fertigt aus echten Haaren Wimpern und Augenbraue für das künstliche Gesichtsteil an.

(Foto: Manfred Neubauer)

Am 5. April kann Reinhardt sie endlich anlegen und sich damit im Spiegel betrachten. "Verblüffend", sagt er. "Ich bin gespannt, wie Kollegen und Klienten, Freunde und Familie reagieren." Reinhardt ist Psychologe und arbeitet in einer Erziehungsberatungsstelle im Landkreis Starnberg. Schürer gibt ihm Hinweise zur Aufbewahrung und Pflege.

Die Epithese darf weder in die Mikrowelle noch in die Waschmaschine. "Und dabei drehe ich doch gerne eine Runde in der Waschmaschine", scherzt Reinhardt. Endlich kann er wieder Witze machen, auch über sich selbst. "Mit dem zweiten sieht man besser", das ist auch so ein Spruch. Er bekommt einen Pass, mit dem er beispielsweise bei Flugreisen belegen kann, warum er Metall im Gesicht trägt. Die Brille mit dem geschwärzten linken Glas braucht er nur noch selten.

Schürer ist sachlich und zugewandt

So findet eine fast siebenjährige Leidensgeschichte einen Abschluss. Schon 2011 hatte Reinhardt eine Schwellung am linken Auge. Ein Zusammenhang mit einer Entzündung der Stirnhöhle und eine Histamin-Intoleranz wurden ebenso diagnostiziert wie ein Lymphödem. Im Sommer 2015 kam ein Knubbel dazu. "Da war's schon zu spät", sagt Reinhardt - der Krebs war da. Es dauerte noch ein halbes Jahr, bis der Krebs erkannt war - ein gefährliches Siegelring-Karzinom. Schließlich landete Reinhardt bei Professor Klaus Dietrich Wolff, Leiter der Mund-Kiefer-Gesichtschirurgie der Münchner Klinik rechts der Isar, der sofort eine Operation ansetzte.

Im April und Juni 2016 wurden das linke Auge und weite Teile der linken Gesichtshälfte entfernt und ein großes Stück Haut von der Schulter transplantiert. "Das war keine Scherzveranstaltung", sagt Reinhardt über die ganztägige Operation im Juni. "Ich bin da aber sehr nüchtern herangegangen und hatte keine Angst. Ich hatte Vertrauen zu Professor Wolff." Er bezeichnet es als "Riesenglück", den Professor als Operateur gefunden zu haben. Bei aller Nüchternheit sagt er zwei Jahre später dennoch: "Mir kommen manchmal noch die Tränen."

Auf Empfehlung von Professor Wolff kam Reinhardt zu Iris Schürer. Sein erster Eindruck: "Gemütlich, nett, entspannt. Die hat Ahnung, ist absolut kompetent. Da bin ich in guten Händen." Schürer lobt ihrerseits ihren Patienten: "Sie gehen total cool damit um." "Ja, jetzt", entgegnet Reinhardt. "Vor ein oder zwei Jahren war das anders. Es ist wie ein Trauerprozess."

Schürer ist sachlich und zugewandt. Zwischen den beiden entwickelt sich im Laufe der Sitzungen ein fast freundschaftliches Verhältnis, sie unterhalten sich über Kunst und Kino, Italien und Schürers Hunde. Schürer ist es wichtig, nach und nach das Wesen der Patienten kennenzulernen, damit sie es in der Epithese zum Ausdruck bringen kann. Wenn es an die kniffligen Aufgaben geht, wird die quirlige, lebhafte Frau ganz ruhig und arbeitet hoch konzentriert.

Die 58-Jährige hat Zahntechnikerin gelernt. Die Epithesen-Herstellung eignete sie sich unter anderem in den USA an, eine spezielle Berufsausbildung gibt es nicht. Sie verfügt über mehr als 30 Jahre Berufserfahrung, ist durch die Internationale Gesellschaft für Chirurgische Prothetik und Epithetik anerkannt und vom deutschen Berufsverband zertifiziert. Von 1984 bis 1993 hat sie das Epithesenlabor der HNO-Klinik des Universitätsklinikums München-Großhadern geleitet, sich dann selbständig gemacht. Etwa 40 Fachleute sind in Deutschland zertifiziert, nur sie können mit den Krankenkassen abrechnen.

Reinhardt nennt Schürers Werkstatt "Bastellabor": Ein nicht besonders großer Raum in einem alten Bauernhaus in Iffeldorf, in dem Schürer mit ihrer Familie auch lebt. Im Erdgeschoß, mit Blick auf Garten und Wald, sitzt sie an einem schmalen Tisch den Patienten gegenüber, die Werkzeuge griffbereit. Am 16. März wird Reinhardts Kunstauge gemalt. Diese Aufgabe übernimmt Schürers 22-jähriger Sohn Maxim, den sie seit einiger Zeit in den Beruf einführt.

Auf eine Kunststoffscheibe, die wie ein dünner Knopf auf einem Sockel liegt, malt er die Iris mit einem sehr feinen Pinsel und Spezialfarben auf: Grau, Weiß, Blau, ein bisschen Grün. Immer wieder vergleicht er mit Reinhardts rechtem Auge. Der Vorgang dauert einige Stunden, jede Schicht Farbe muss trocknen. Zunächst sieht es aus, als sei die Augenfarbe zu dunkel, aber als die künstliche, gewölbte Hornhaut das Auge vervollständigt, wirkt sie täuschend echt.

In einer Pause spritzt Schürer die Höhlung, in der Reinhardts linkes Auge saß, mit Silikon aus. Dieser Abdruck wird in Gips eingebettet. So entsteht eine Form, in der Schürer aus dünnen, rosafarbenen Wachsplatten Schicht für Schicht Lider und Tränensack, Augenwinkel und Augenbraue modelliert, alles nach dem Vorbild des rechten Auges. "Ein freundliches Lächeln kann man auch reinmodellieren", sagt Schürer - durch Lachfältchen. Nasenmodelle fertigt Schürer nach früheren Fotos der Patienten an. "Eine zu glatte, ebenmäßige Nase fällt auf im Gesicht", sagt die Epithetikerin. Das wolle sie vermeiden, um den Blick nicht auf das künstliche Körperteil zu lenken.

"Die Kollegen waren total von den Socken"

Das Wachsmodell wird wieder in Spezialgips eingebettet. Der besonders gute aus Japan ist teuer - das Vier-Kilo-Gebinde kostet 120 Euro. Er hat angerührt eine Konsistenz wie geschlagene Sahne, wird beim Trocknen superhart und bröckelt nicht. "Das Einbetten ist der kniffligste Part", erklärt Schürer. "Wenn das schiefgeht, ist die ganze Modellation verloren." Das Wachs wird aus dem Gips herausgeschmolzen, es entsteht ein Abdruck, eine Form, in die später der naturgetreu eingefärbte Kunststoff für die Epithese gegossen wird.

Auf das Mischen des richtigen Farbtons verwendet Schürer viel Mühe. Denn wenn der passt, ist die Epithese vom Rest des Gesichts wirklich kaum zu unterscheiden. Wichtig für die Wirkung ist auch die Blickrichtung. Weil Reinhardt mit 1,84 Metern recht groß ist, weist das neue Auge leicht nach unten. "Damit er nicht über alle Gesprächspartner hinweg schaut", erklärt Schürer.

Er muss lernen, den Kopf zu bewegen, nicht nur das rechte Auge. Denn das linke ist starr. Feinheiten wie Sommersprossen oder Augenringe malt Schürer beim letzten Termin am 5. April mit einem feinen Pinsel auf, während Reinhardt die Epithese trägt. Das sieht aus, als würde er geschminkt, aber hübscher gemacht wird er nicht - das künstliche Auge soll ja authentisch wirken.

Ganz zum Schluss kommt als besonderer Kniff glänzender, durchsichtiger Lack in den Augenwinkel, der beim echten Auge immer leicht feucht ist. Wegen der vielen Handarbeit und der Spezialmaterialien liegt der Preis einer Epithese gut im vierstelligen Bereich. Sie hält etwa zwei Jahre. Dann wird ein Ersatz angefertigt, was aber weniger aufwendig und deshalb nicht so teuer ist. Denn der Abdruck und auch das künstliche Auge können wieder verwendet werden.

Augenbraue und Wimpern vollenden die Epithese. Iris Schürer hält das aus Silikon modellierte Gesichtsteil mit dem künstlichen Auge vorsichtig in der Hand. Mit einer feinen Spezialnadel näht sie echte Haare ein. Immer wieder hält sie es vor Reinhardts Gesicht. Die rechte Augenbraue ist recht buschig, das Nähen der linken dauert entsprechend lange - fast zwei Stunden.

"Ulkig, verrückt" findet es Reinhardt, das eigene Auge in Schürers Hand oder auf dem Tisch liegen zu sehen. Die Epithese sieht tatsächlich täuschend echt aus. In sechs langen Sitzungen hat Schürer das "Plastikauge", wie Reinhardt im Scherz sagt, angefertigt. Familie, Freunde und Kollegen reagieren dann ganz unterschiedlich. Manche, so berichtet Reinhardt, bemerken die Epithese erst gar nicht, andere sprechen ihn gleich darauf an.

"Die Kollegen waren total von den Socken", sagt er. Auch zwei seiner Klienten reden mit ihm über die Epithese. Nach dem ersten Wirbel ebbt die Aufregung ab, und das ist Reinhardt sehr recht. "Es ist angenehmer, dass ich nicht mehr auffalle." Das Gesichtsteil mit dem künstlichen Auge macht sein Leben wieder ein Stück normaler.

Allerdings birgt das Leben mit der Epithese auch Probleme. Eines taucht auf, als er das erste Mal länger damit Zug fährt. Er möchte ein Nickerchen machen, kann aber nur das rechte, das echte, Auge schließen. Das linke bleibt offen. Weil er diesen leicht gruseligen Anblick niemandem zumuten will, wird er künftig bei solchen Gelegenheiten eine Sonnenbrille nutzen.

Wichtiger als die Epithese ist ihm allerdings eine andere Nachricht: Eine gründliche Nachuntersuchung im April hat ergeben, dass in Reinhardts Körper kein Krebs mehr wächst.

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