Bildband "About Us. Young Photography in China":Aus der Rippe geschnitten

Junge Chinesen fotografieren ihr Leben, ihr Leiden, ihr Land. Und sie halten sich dabei an keine Konvention: der überraschende und vielfältige Bildband "About Us" aus dem Münchner Hirmer Verlag.

Von Evelyn Vogel

Sie suchen das Schöne ebenso wie das Hässliche, geben Einblicke in öffentliches wie in privates Leben, bilden Freiheit und Stolz ebenso ab wie Bedrängnis, Angst und Not. Dabei scheren sie sich nicht um Staatsdoktrin oder gesellschaftliche Normierung, denn sie wissen um die Aufmerksamkeit, die ihre Bilder ihnen verschaffen. Junge Fotografen aus China richten ihren Blick im eigenen Land überall dahin, wo ihnen das Leben mit all seinen Widersprüchen und Widerständen begegnet. Wo Sehnsüchte und Träume auf Realität treffen, wo Erinnerungen an Traditionen wach werden und der Turbokapitalismus der zurückliegenden Jahrzehnte die Veränderungen um so deutlicher gemacht hat.

Die ältesten dieser Fotografen sind geboren in den Sechzigerjahren während der Kulturrevolution, die jüngsten in den Neunzigern. Mit ihren oft recht unkonventionellen Arbeiten reagieren sie darauf, wie die Menschen im Land selbst die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Folgen des raschen Aufstiegs erleben. Denn lange Zeit war es der Blick westlicher Besucher, der die Ansichten auf China prägte. Diese Aufnahmen aber geben von innen heraus Einblicke in das Land und die Gesellschaft. Eva-Maria Fahrner-Tutsek hat die Werke auf ihren zahlreichen Reisen durch China für ihre Fotosammlung erworben und nun zusammen mit Petra Giloy-Hirtz als opulenten Bildband bei Hirmer herausgebracht.

Unter den 40 Künstlerinnen und Künstlern sind junge und noch unbekannte, die in der chinesischen Provinz geboren wurden und diese bislang nie verlassen haben. Aber auch solche, die im Ausland lebten oder leben und daher international erfahren sind. Manche sind Autodidakten, andere wurden auf renommierten Akademien im In- und Ausland ausgebildet. Alle aber setzen sich mit den Veränderungen in ihrem Land auseinander.

Dabei verwenden sie die Kamera und das entstandene fotografische Material in vielfältiger Form. Mitunter wird das Foto mehrfach bearbeitet, zu einer Installation zusammengefügt, ist Teil einer environmentartigen Installation. Fotografen wie Yin Xiuzhen und Zhang Huan wurden später mit ihren Performances, mit Malerei, Fotografie und Installation international bekannt. Bei anderen Künstlern lag der Schwerpunkt schon immer in anderen Medien als der Fotografie, etwa im Film und im Video wie bei Wang Bing, Yang Fudong, Cao Fei und Shen Wei.

Beim Blättern durch den Bildband trifft man auf kühle Schwarz-Weiß-Ästhetik neben dramatischen Inszenierungen in Farbe. Porträtfotografie findet sich neben sozialkritischen Aufnahmen von Wanderarbeitern oder Stadtgesellschaften, die längst aus dem Lot geraten sind. So gibt Chen Ronghui mit seinen Aufnahmen den verunsicherten jungen Menschen im Nordosten des Landes eine Stimme. Wang Bing, einer der älteren, hat mit seiner Schwarz-Weiß-Serie "Father and Son" einem Vater und seinen Söhnen in dem heruntergekommenen Viertel einer ausgestorbenen Stadt in den Bergen von Yunnan ein Denkmal gesetzt. Zhang Kechun zeigt vereinzelte Personen in den weiten Landschaften des Yellow River, Adou fokussiert sich auf die Mitglieder dörflicher Gemeinschaften verschollener Orte in entlegenen Provinzen, die Bewohner der eigenen Heimatstadt, deren Lebensbedingungen sich gravierend verändert haben, hält Shi Yangkun fest.

Den Menschen in Tibet hat Gao Bo mit seinen "Tibetan Portaits" Beachtung verliehen und Zhang Xiao ruft vergessene Personen seiner Kindheit in Erinnerung. Porträts verletzlicher und doch auch selbstbewusster junger Mädchen hält Luo Yang fest, während der früh verstorbene Ren Hang in seinen oft federleicht anmutenden Aufnahmen von Freundschaft, Liebe, Angst und Einsamkeit erzählt. Liang Xiu thematisiert in grobem Schwarz-Weiß sexuelle Orientierung und ökonomische Ungleichheit, die Schönheit des menschlichen Körpers in urbaner bedrohter Umgebung hält das Duo Rong Rong & Inri fest, während Liu Tao den eigenen nackten Körper in unberührter Natur oder an verfallenen Orten in den Mittelpunkt stellt und bei Fotokünstlern wie Chen Alex Huanfa oder Wenjun Chen & Yanmei Jiang tagebuchartige Aufzeichnungen zwischenmenschlicher Beziehungen entstehen.

Das alles ist so vielfältig und überraschend, dass man den Bildband immer und immer wieder durchblättert. Die Ausstellung dazu fiel weitgehend dem Lockdown zum Opfer. Auch deshalb bleibt zu hoffen, dass sich bald eine Gelegenheit ergibt, den Originalaufnahmen von Angesicht zu Angesicht gegenüber zu stehen.

About Us. Young Photography in China, hrsg. von Eva-Maria Fahrner-Tutsek und Petra Giloy-Hirtz, Hirmer Verlag, München 2021, 296 Seiten, 220 Abb., 39,90 Euro

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