Chefdirigent Mariss Jansons:"Die Münchner springen nicht auf"

Mariss Jansons ist seit 2003 der Chef des BR-Symphonieorchesters - und Münchner. Ein Gespräch über den Schickimicki-Status der Stadt, seine Lieblingsorte und die verblüffenden Ähnlichkeiten zwischen Fußballfans und Konzertbesuchern.

Christian Krügel und Christian Mayer

Es ist 21 Uhr, der Meister wartet nach einem arbeitsreichen Tag in seiner etwas plüschigen Suite im Hotel Bayerischer Hof. Er sorgt sich sogleich um das leibliche Wohl seiner Gäste: "Nehmen Sie, bitte nehmen Sie", auf dem Glastisch steht ein Stollen, den Mariss Jansons selbst aufschneidet und gütig verteilt. Und dann beginnt ein sehr inspirierendes Gespräch: Manchmal schnellt dieser große Dirigent voller Begeisterung aus dem sehr weichen Sofa, dann ist er ganz bei sich - fast wie im Konzert. Man spürt: Dieser Mann trägt eine Leidenschaft in sich, die andere mitreißt.

Mariss Jansons dirigiert BR Symphonieorchester, 2010

In dieser Konzertsaison hat sich Mariss Jansons eine Auszeit genommen - und arbeitet trotzdem mehr als viele andere. Er leitet neben dem BR-Symphonieorchester auch das Amsterdamer Concertgebouw-Orchester und will auch während seines Sabbaticals in beiden Städten weiterhin präsent sein.

(Foto: Robert Haas)

Jansons, geboren 1943 in Riga, kommt aus einer Musiker-Familie: Seine Mutter war Sängerin, sein Vater Dirigent, der 1952 neben Jewgenij Mrawinskij Chef der Leningrader Philharmoniker wurde. Seit damals lebt Mariss Jansons im heutigen Sankt Petersburg. Er lernte bei Hans Swarowsky und Herbert von Karajan und arbeitete - wie sein Vater - jahrelang mit Mrawinskij zusammen. International berühmt wurde er durch seine Arbeit mit den Osloer Philharmonikern, die er zu einem der besten Orchester Europas machte. Seit 2003 ist er Chef des BR-Symphonieorchesters, im Sommer hat er seinen Vertrag bis 2015 verlängert. Jansons ist verheiratet, seine Frau Irina begleitet ihn stets auf seinen Reisen. Er hat eine erwachsene Tochter, die am Theater in Petersburg arbeitet.

SZ: Maestro Jansons, fühlen Sie sich denn als Münchner?

Mariss Jansons: Ja. Mir ist das sehr lieb hier: die Leute, die Mentalität, die ganze Stadt. Ich fühle mich hier sehr wohl und den Menschen sehr nah. Natürlich ist es bei meiner Heimatstadt Riga und bei Sankt Petersburg, wo ich nun schon so lange lebe, noch ein anderes Gefühl. Aber wenn ich international die Städte vergleiche, in denen ich war, ist München meine Lieblingsstadt.

SZ: Was gefällt Ihnen am besten?

Jansons: Am meisten begeistert mich natürlich mein Orchester. Die Atmosphäre des Musizierens ist dort einfach wunderbar.

SZ: Hat diese Atmosphäre im Orchester etwas mit der Mentalität der Menschen in dieser Stadt zu tun?

Jansons: Ich glaube ja. Man fühlt doch: Das ist Bayern. Es gibt einen großen Unterschied zu den Orchestern in Norddeutschland. Vielleicht kann man es so sagen: Bayern und München sind fast schon Österreich - aber doch noch sehr weit weg von Österreich.

SZ: Was kennen Sie von der Stadt?

Jansons: Das ist mein Problem. Als ich in München begonnen habe, bin ich in die Pinakothek, in die Museen, in den Englischen Garten, an den Starnberger See. Aber wenn ich jetzt hier arbeite, fehlt mir die Zeit dafür. Manchmal denke ich, ich muss mir einen Tag freinehmen, um München zu genießen - aber irgendetwas kommt immer dazwischen.

SZ: Wie sieht für Sie ein Arbeitstag aus?

Jansons: Es beginnt um 8 Uhr morgens und geht, bei Konzerten, bis nach Mitternacht. Oft haben wir dann noch Besprechungen. Früher war ich oft abends noch mit Freunden beim Essen. Das mache ich kaum noch, erstens weil es sehr spät wird, zweitens weil ich aus gesundheitlichen Gründen versuche, nach sieben Uhr abends nichts mehr zu essen. Nach den Konzerten kommen auch immer sehr viele Leute ins Dirigentenzimmer, die mit mir reden wollen. Als Chefdirigent braucht man auch diese Kontakte. Ich muss mit einem Fuß in der Gesellschaft dieser Stadt sein - sonst kann ich hier nicht arbeiten.

"Das Münchner Publikum ist nicht sehr spontan"

SZ: Ist das Münchner Konzertpublikum ein spezielles?

Violonistin Mutter und Dirigent Jansons besuchen Stiftung Hasenbergl

Kinder liegen Mariss Jansons besonders am Herzen. In München arbeitet er regelmäßig mit jungen Musikern des Bayerischen Jugendorchester, zudem unterstützt er das Projekt "Musik für alle Kinder" des SZ-Adventskalenders.

(Foto: dapd)

Jansons: Wir haben in München ein wunderbares Publikum. Aber es gibt Städte, da sind die Leute verrückt vor Begeisterung, zum Beispiel in Sydney, Barcelona oder Seoul. In München ist es anders: Es gibt ein sehr solides Publikum, das die Musik liebt. Aber es ist nicht sehr spontan, die Menschen springen nicht auf. Das ist aber keine Kritik - die Menschen sind eben überall anders. Und natürlich sind die Münchner auch verwöhnt.

SZ: Weil es so viele gute Konzerte gibt?

Jansons: Ja, das Niveau in München ist sehr hoch. München ist eine Museen- und Musikstadt, absolut.

SZ: Ähnlich wie Wien?

Jansons: Wien ist noch einmal etwas ganz anderes. Dort liegt Musik einfach in der Luft. Ähnlich wie der Fußball zu Brasilien gehört, gehört zu dieser Stadt die Musik. Abgesehen von Wien aber kann man weltweit vielleicht von sechs, sieben Städten reden, in denen Musik einfach ein fester Teil der Mentalität und des Lebens ist.

SZ: Welche Städte sind das?

Jansons: Das sind Berlin, Amsterdam, Tokio, mit Abstrichen London, zur Festspielzeit auch Salzburg, Dresden. Und es ist ganz klar München.

SZ: Wo aber auch der Fußball eine wichtige Rolle spielt.

Jansons: Oh ja, ich bin so begeistert von der Allianz-Arena und ich liebe den Fußball. Ich war leider erst einmal dort, bei FC Bayern gegen Inter Mailand. Ich möchte so gerne öfter gehen, aber es fehlt die Zeit.

SZ: Die Fans des FC Bayern sind dem Konzertpublikum nicht unähnlich: Sie sind bei tollen Leistungen schnell begeistert, aber bei Mittelmaß auch sehr kritisch.

Jansons: Ja, wissen Sie was interessant ist: Als ich in der Arena war, habe ich Gesichter gesehen, die ich auch in den Konzerten schon gesehen habe. Ich glaube, die Menschen hier gehen wirklich genauso ins Museum und ins Konzert wie ins Fußballstadion. Natürlich gibt es in allen Städten Künstler, die fußballverrückt sind. Aber ich habe das Gefühl, dass es in München da eine besondere Verbindung gibt.

SZ: Ist München aber auch eine Stadt, in der die breite Masse musikalisch interessiert und gebildet ist? Oder ist es doch nur eine Sache für Eliten?

Jansons: Ich glaube, das Gewicht liegt auf der Elite. Aber das ist nicht nur in München so. Das Hauptproblem ist, dass junge Leute weltweit - vielleicht mit Ausnahme Chinas - sich zu wenig für klassische Musik interessieren. Wir Musiker fragen uns oft, wie können wir die Musik bei jungen Menschen bekannt machen? Natürlich muss man in die Schulen gehen, zu Proben einladen, Werbung machen. Wenn man aber ein echtes Resultat sehen will, gibt es nur einen Weg. Man muss von oben, von Seiten der Politik verordnen, dass Kinder vom Kindergarten an über Kunst informiert und in Kunst unterrichtet werden. Ich meine dabei nicht nur die Musik. Kunst allgemein muss ein so wichtiges Fach sein wie Mathematik, Physik, Chemie.

Ist es falsch, Brahms zu lieben?

SZ: In München und Bayern ist aber vieles der Wirtschaftlichkeit untergeordnet, auch in der Schule. Kann sich ein verpflichtender Musikunterricht rentieren?

Jansons: Was heißt denn rentieren? Natürlich kostet alles Geld, aber die Stadt und der Staat haben ja auch Geld. Ich sage ja nicht, dass jeder Musiker werden soll. Aber der Staat muss den jungen Leuten den Weg zur Kunst zeigen. Dafür braucht es natürlich Lehrer, die auch Geld kosten, klar. Aber anders als beim Bau einer Brücke oder eines Hauses können Sie bei Kunst nicht messen, welchen Profit es abwirft. Wenn ein junger Mann im Theater ein ergreifendes Stück sieht, kann keiner sagen, was dafür investiert wurde und was das wirtschaftlich bringt. Vielleicht ist aber der Junge durch diesen Abend zu einem anderen, besseren Menschen geworden. Damit haben Sie aber so viel in seinen inneren Wert investiert.

SZ: Hatten Sie selbst so ein Erlebnis?

Jansons: Als ich als junger Mann in Salzburg war, habe ich zum ersten Mal "Doktor Schiwago" im Kino gesehen, der in der Sowjetunion verboten war. Ich war so beeindruckt, dass ich die ganze Nacht durch Salzburg gelaufen bin. Am nächsten Morgen habe ich jedem voller Begeisterung erzählt. Ich habe positive Energie ausgestrahlt und damit andere begeistert. Das brauchen wir: Nicht morgens mürrisch vor dem Computer sitzen, sondern Kollegen und Freunde begeistern durch die Kunst, die man erlebt hat.

SZ: Sie selbst investieren viel Zeit dafür, weil Sie mit Jugendlichen proben und Kinderprojekte unterstützen. Resultiert das aus eigenen Jugenderfahrungen?

Jansons: Ich kann das nicht vergleichen. Ich bin in eine intellektuelle musikalische Familie geboren worden, mein Weg war ein spezieller. Das war Glück. Aber ich bin absolut überzeugt, dass Kunst und Religion die wichtigsten Dinge für die geistige Entwicklung eines Menschen sind - das ist unabhängig vom Elternhaus.

SZ: Es gibt in München viel Reichtum, aber auch eine gewisse Oberflächlichkeit, den Hang zur Show.

Jansons: Show? Was meinen Sie damit?

SZ: Gehen Sie manchmal durch die Maximilianstraße?

Jansons: Ja. Aber das ist nichts Typisches für München. Es gibt hier Schickimicki, ja. Aber das gibt es auch in anderen Städten, in London, in New York. Selbst in den Konzerten in Wien gibt es vielleicht so 150 Leute, die nur kommen, um gesehen zu werden. München ist keine führende Stadt in Sachen Oberflächlichkeit.

SZ: Es gibt aber viel Oberflächlichkeit in der Klassik-Szene und den Trend, sich als Künstler populär zu vermarkten. Zu David Garretts Konzerten kommen Tausende in die Olympiahalle, auch viele junge Leute. Freut Sie so etwas oder ist Ihnen die Qualität der Musik wichtiger?

Jansons: Die Qualität muss an erster Stelle stehen. Die Leute müssen ein sehr hohes Niveau hören, denn sonst können sie keinen richtigen Geschmack entwickeln.

SZ: Viele sagen, das Münchner Publikum ist ein konservatives Publikum. Es liebe Bruckner, Mahler, Strauss, Brahms, aber viele Komponisten schafften es hier nie in die Konzertprogramme. Stimmt das?

Jansons: Ja, das stimmt ein bisschen. München ist nicht eine der Städte, in der Sie einfach so moderne Musik und Komponisten präsentieren können, auch wenn die Musica-viva-Konzerte ganz gut besucht sind. In Amsterdam habe ich vor kurzem ein Programm mit der zeitgenössischen Komponistin Gubaidulina, Strawinsky und Varèse gemacht. Alle Konzerte waren ausverkauft, und die Menschen waren begeistert.

SZ: Können Sie sich so etwas in München vorstellen?

Jansons: Ich glaube nicht. Aber bitte: Das ist keine Kritik. Jede Stadt hat ihre eigene Mentalität und Vorlieben. Und wer hat gesagt, dass es falsch ist, Brahms zu lieben, und richtig, Varèse zu mögen? Wer kann entscheiden, welcher Geschmack richtig ist?

SZ: Sie haben Ihren Vertrag bei den BR-Symphonikern verlängert. Welche Projekte verbinden Sie damit?

Jansons: Das Orchester ist so gut, dass wir es stärker in der Welt präsentieren müssen. Das haben wir durch Tourneen und Gastspiele auch schon gemacht. Das zweite Projekt ist der eigene Konzertsaal. Ich will die ganze schreckliche Geschichte nicht wiederholen. Aber ich möchte dieses Ziel endlich einmal erreichen.

SZ: Dazu müssten Sie aber die Politiker, gerade im Landtag, überzeugen.

Jansons: Wissen Sie, wir haben so viel über Kunst und geistige Bildung für die Kinder geredet. Was fördert denn diese Kunst? Natürlich ein sehr guter Konzertsaal. Stellen Sie sich vor, der FC Bayern spielt in einem kleinen Stadion - was soll sich denn da entwickeln?

SZ: Warum braucht München noch einen Saal, warum nicht Nürnberg, Regensburg oder Augsburg?

Jansons: München ist die Lokomotive des Landes, und diese Lokomotive zieht die anderen Wagen, die anderen Städte mit. Wenn wir einen wunderbaren Saal und ein sehr intensives Musikleben hätten, das international ausstrahlt, würde das München und dem ganzen Land helfen. Ja, es gibt schon jetzt ein sehr gutes Musikleben hier. Aber wir dürfen damit nicht zufrieden sein. Wir müssen international die Tore öffnen. Alle Welt geht nach Birmingham, weil es dort einen sehr guten Saal gibt. Aber bitte: Was ist Birmingham im Vergleich zu München?

SZ: Sind die Münchner zu selbstverliebt und zu schnell zufrieden?

Jansons: Das ist nicht nur in München so. Wenn es den Menschen materiell gut geht, ist man schnell zufrieden. Aber wir brauchen mehr, wir alle brauchen einen kleinen, guten Teufel in unserer Brust, der uns motiviert und uns sagt: "Es geht noch besser."

SZ: Werden Sie nicht langsam müde, für den Saal zu kämpfen?

Jansons: Überall, wo ich war, musste ich kämpfen: in Oslo für ein besseres Gehalt der Musiker, in Pittsburgh für die Existenz des Orchesters, in München für den Konzertsaal. Ich weiß, dass viele in der Münchner Gesellschaft bereit sind, für den Konzertsaal Geld zu geben. Aber zunächst muss man endlich entscheiden, wo der richtige Ort für den Saal ist. Und wenn dann nicht genügend Geld zusammenkommt, muss man sagen: Es geht nicht, wir schließen das Buch. Aber fangen wir doch endlich an!

SZ: Sie sagten, Sie fühlen sich als Münchner. Kann eine Hotel-Suite im Bayerischen Hof für Sie Heimat sein?

Jansons: Ja, absolut. Erstens ist es sehr bequem, es ist ein wunderbares Hotel, mit sehr freundlichen Menschen - und zweitens muss ich die meiste Zeit hier arbeiten.

SZ: Haben Sie einen Lieblingsort?

Jansons: Ja (lacht), das Café Hag. Ich liebe Schokolade und diese Mehlspeisen, und dort zu sitzen, ist wunderbar.

SZ: Wo gehen Sie mit Ihren Freunden hin?

Jansons: Ins Hotel natürlich und in dieses Café. In einem kleinen Café zu sitzen und zu reden, ist doch so schön. München hat noch etwas von dieser Kaffeehaus-Kultur. Aber diese Kultur verschwindet in vielen Ländern - leider.

SZ: Gehen Sie in München auch mal einkaufen?

Jansons: Ich? Einkaufen? Fast nie! Fragen Sie meine Frau: Sie muss mich immer dazu drängen. Jetzt für das Neujahrskonzert in Wien musste ich einen Anzug kaufen.

SZ: Das klingt eher nach Qual.

Jansons: Die ersten 15 Minuten war es in Ordnung. Dann ging es in Richtung Qual. Ich bin nicht einer, der gerne spazieren geht und einkauft. Für mich ist es wahnsinnig wichtig, dass ich mich mit Leuten treffe und rede, über alles, Musik, Politik. Ich brauche menschlichen Kontakt.

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